Es gibt liberale, neoliberale, nationalistische, marxistische, feministische und intersektionalistische Identitätspolitiken, wobei es von letzteren beiden liberale und materialistische Varianten gibt und die Liste nicht vollständig ist.
Wenn der Verfasser die SPD mit einem rechten, einem neoliberalen und einem sozialliberalen Flügel als linke Partei bezeichnet, ist das zudem einfach weltfremd. Die begründete Annahme, dass von ihr keine linke Identitätspolitik zu erwarten ist, muss sie erst selbst wiederlegen.
Was der Verfasser da als "linke" Identitätspolitik - als die Identitätspolitik - identifiziert, ist gar keine linke Identitätspolitik, sondern eine liberale.
Die Arbeiterbewegung war deswegen im Deutschen Reich so erfolgreich - immerhin hat sie die Revolution geführt - weil die Gesellschaft zutief identitätspolitisch geprägt war. Es gab Arbeitersportvereine, Arbeiterkneipen, Arbeiterbühnen, Arbeiterviertel, Arbeiterwohlfahrt, Arbeitersamariterbund und Volkssolidarität. Die SPD war damals eine ausgeprägte Arbeiterpartei und sie hat ihre Erfolge erziehlt, weil sie Arbeiter:innen als Arbeiter angesprochen hat. Nicht, weil sie Slogans gehabt hätte wie "Wir sind doch alles Menschen und wir sind alle verschieden".
Feminismen waren deswegen erfolgreich, weil sie Frauen als Frauen repräsentiert haben und auch Antirassismen werden nicht erfolgreich sein, wenn sie nicht auf Kategorien wie Schwarz oder People of Color zurückgreifen. Dass einige Gruppen da über das Ziel hinausschießen, ist durch die langjährige Diskriminierungs und Repressionserfahrung einfach zu erklären.
Anstatt von Arbeiter:innen, Frauen* und BIPoC eine quasi-brahmanische Selbstbeherrschung zu erwarten und zu unterstellen, diese müssten, um ihre tatsächliche Gleichstellung zu rechtfertigen, erst einmal unter Beweis stellen, dass sie die besseren Menschen seien, sollte ein Reflexionsprozess über die historisch-materialistischen Entstehungs- und Reproduktionsverhältnisse von Kapitalismen, Patriarchaten und Weißem Vorherrschaften einsetzen, der diese Herrschaftsverhältnisse aufeinander bezieht.
Kapitalismen wäre z.B. als warenproduzierendes Patriarchate zu analysieren, in dem die Arbeiten zur Reproduktion der gesellschaftlichen Arbeitskraft, der Tausch- und der Gebrauchswerte schlecht oder gar nicht bezahlt werden und vorrangig von Frauen geleistet werden.
Kapitalistische Volkswirtschaften wären z.B. als rassische Kollektive (im Sinne der "deutschen Rasse", der "race francaise", der "american race") im Kampf um kapitalistische Vorherrschaft und in der kulturellen Rassezucht (im Sinne der "deutschen Leitkultur", des "französischen Republikanismus", des "amerikanischen Menschen") zu analysieren.
Nicht ohne selbstverständlich die Grenzen dieser Konzepte anzusprechen, die nur Tendenzen der Herrschaft wiedergeben, aber keine individuellen psychologischen Diagnosen sind.
Das Ziel wäre, eine Identitätspolitik zu entwickeln, die Klassen-, Geschlechts- und Race/Kultur-Identitäten ansprechen kann und ihre Kämpfe um Emanzipation aufeinander bezieht. Dabei wird mehr über die Rolle zu sorechen sein als über die Identität - ohne dass die Rolle dabei aus ihren identitätspolitischen Bezügen gelöst wird.
Die Linkspartei hat seit Jahrzehnten ein Programm, dass soziale Belange in den Mittelpunkt stellt und sie tritt bei Arbeitskämpfen an der Seite der Löhnabhängigen auf und da wo sie erfolgreich ist, macht sie das, ohne die Belange von Frauen oder "Menschen mit Migrationshintergrund" als nachrangig zu behandeln.
Seit Jahrzehnten könnte also das untere Einkommensdrittel der deutschen Wahlberechtigten eine Partei wählen, deren Programm ihre Interessen repräsentiert.
Dass sie das nicht tut, liegt nicht daran, dass sich die Linkspartei von der Klasse der Lohnabhängigen entfernt hätte, sondern daran, dass sich diese Klasse von ihrem Klassenbewusstsein entfernt hat. Dass mit Sarah Wagenknecht eine Politikerin die beliebteste in der Linkspartei ist, die explizit auf nationalistische Identitätspolitik setzt und gleichzeitig gegen "die Identitätspolitik" wettert, soll an dieser Stelle Beweis genug sein.
Das zeigt, dass sich das untere Einkommensdrittel der Deutschen "ohne Migrationshintergrund" mit der deutschen Arbeiteraristokratie mehr identifiziert als mit den am stärksten ausgebeuteten Teilen der Klasse der Lohnabhängigen: den osteuropäischen Frauen, die im informellen Sektor den größten Teil der häuslichen Pflege leisten, den (fast ausschließlich männlichen) Bauarbeitern aus Bulgarien, Rumänien, Afghanistan etc, die gegenüber ihren deutschen Kollegen überausgebeutet werden, den Migrant:innen, die den größten Teil der Lieferdienstarbeit leisten, den Osteuropäer:innen in der Erntearbeit in Deutschland, den Schwarzen, die diese Tätigkeit vorrangig in Spanien und Italien ausüben, den Zwangprostituierten aus Osteuropa und Afrika und all den Menschen, die in den globalen kapitalistischen Produktions- und Lieferketten ausgebeutet werden.
Dass eine (neo-)liberale Identitätspolitik diese Ausbeutungsverhältnisse nicht repräsentieren und problematisieren kann und will, liegt auf der Hand. Wenn man allerdings versucht, die Klasse der Lohnabhängigen zu repräsentieren, ohne anzusprechen, dass gewisse Teile dieser Klasse aus strukturellen Ursachen überausgebeutet werden und andere Teile dieser Klasse aus ebenjenen strukturellen Ursachen privilegiert sind, lassen sich die strukturellen Ursachen der Ausbeutungsverhältnisse nicht angreifen.
Kapitalistische Ausbeutung wird dann individualisiert, wir alle seien doch Menschen und wir alle seien doch verschieden. Klassen-, Geschlechter- und Race-Verhältnisse lassen sich dann nicht mehr an sich problematisieren und der Status Quo der Herrschaft wird bestätigt. Der Staat solle einfach seine Rolle als ideologischer Gesamtkapitalist wieder etwas ernster nehmen.