Wer in kolonialen Strukturen denkt, der kann zwischen freien und beherrschten Völkern unterscheiden. Freie Völker hatten in den letzten paar hundert Jahren maximal eine kurzzeitige Eroberung/Besetzung zu erdulden. Während der Besetzung eingeführte Normen und Vorstellungen der Besetzer wurden nach dem Ende der Besetzung übernommen oder verworfen. Ein Beispiel sind hier z.B. die von der französischen Besetzung zur Zeiten Napoleons übernommene Verwaltungsstrukturen in Deutschland.
Bei den beherrschten Völkern dauerte die Besetzung Jahrzehnte. Oft auch Generationen.
Die lokalen Herrschaftsstrukturen und Eliten orientierten an den Besatzern/Kolonialherren und gingen einen faustischen Pakt ein und versuchten die fremde Kultur weitgehend zu übernehmen und sich anzupassen.
Im Rahmen einer Dekolonisierung werden solche Beziehungen und kulturelle Übernahmen besonders kritisch betrachtet. Das schönste Beispiel dürfte hier die englische Sprache in Indien sein, die dort die Sprache der Juristen vor Gericht ist und Hindu-Nationalisten ein Dorn im Auge ist.
Umgekehrt gibt es auch viele kulturelle Übernahmen, die nicht im Kontext einer Herrschaftsbeziehung zu bringen sind, wie z.B. das Faible der Chinesen für klassische Musik.
Die Beziehung der Ukrainer, hierbei insbesondere der Kleinrussen zu den Russen (Großrussen) läßt sich wohlwollend als schwierig bezeichnen, denn denen wird eine kulturelle Eigenständigkeit von Russen abgesprochen.
Das drückt sich natürlich auch in der Literatur aus, die zur Zeiten der UdSSR (und auch später) verbreitet wurde.
Da habe ich durchaus verständnis, insbesondere unter aktuellen Rahmenbedingungen, wenn Ukraine auf die kulturelle Vereinnahmung allergisch reagieren.
A propos Dekolonialisierung:
Die DDR war 44 Jahre praktisch eine Kolonie der UdSSR. Da gab es nicht nur die Breschnew-Doktrin und das Land war voller Soldaten der UdSSR, sondern auch kulturell konsequent auf Moskau ausgerichtet. (Mit teilweise sehr mäßigem Erfolg, da auch die Ossis lieber nach Westen schauten.)
In diesem Tagen ist das Treiben im Osten unseres Landes doch manchmal äußerst befremdlich, wenn es um den ehem. Kolonialherrn geht.
Da bleibt noch viel zu tun.