Naturzucker schrieb am 09.01.2021 22:16:
Nur, dafür alleine "den Kapitalismus" als Schuldigen auszumachen greift zu kurz. Und in Jahrzehnten politischer Diskussion habe ich eines gelernt: Dass die meisten Menschen zumachen, wenn man auch nur nur andeutungsweise die Systemfrage stellt.
Nun ja, je mehr man darüber weiss, wie dieses System funktioniert, desto plausibler wird es auch, darin das Kernproblem vieler Probleme zu sehen. Der Kapitalismus ist ja nichts, was sich irgendwer ausgedacht hat und dann haben sich alle gesagt "Ja, toll, klingt jut, machen wir jetzt!". Das ist völlig natürlich entsprechend den historischen Entwicklungen gewachsen, irgendwann zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert waren die materiellen und politischen Bedingungen günstig, dass sich das so entwickeln konnte. Die Sache ist halt, dass dieses System dafür sorgt, dass alles, was produziert wird, lediglich zu dem Zweck produziert wird, Profit zu machen. Die konkreten Eigenschaften aller Produkte sind da eher nebensächlich, deshalb spielen sie bei der Entwicklung auch so gut wie keine Rolle. Deshalb gibt es halt Östrogenfleisch mit Antibiotika-Zulage, und Herz-Kreislauferkrankungen, von denen früher nur das Adelspack geplagt wurde, sind jetzt weit verbreitet, weil so gut wie alle viel zu viel Fleisch essen. Dass die Systemfrage heute für die meisten, die noch den Ostblock erlebt haben, ein rotes Tuch ist, ist nicht weiter verwunderlich. Kuba und Venezuela machen die Sache auch nicht grad viel besser mit ihrer realsozialistischen autoritären Kommandomisswirtschaft, als ob sie aus dem Fiasko des 20. Jahrhundert wirklich nichts gelernt hätten ausser, die Leute noch mehr zu gängeln, um sich an der Macht zu halten. Das Problem ist allerdings, dass es nichts hilft, an ein paar Reformschräubchen rumzudrehen, weil es eben systembedingt kracht. Beziehungsweise: Aus Mangel an einem System, denn der Kapitalismus ist überhaupt kein System, er ist die völlige Systemlosigkeit, ein naives Wirtschaftssystem aufgebaut auf in sich widersprüchlichen intuitiven Grundannahmen, die Sinn machten, als wir noch Jäger und Sammler in umherziehenden Clangruppen waren, aber seitdem immer weniger, je weiter das Wissen und die Produktivität fortschreitet. Jetzt haben wir immerhin schon mal eine ziemlich umfassende Analyse des ganzen Systems, und die Menschen ziehen es vor, die Schlussfolgerungen daraus zu ignorieren, obwohl es den meisten damit ziemlich dreckig geht, oder vielleicht auch, weil es ihnen so dreckig geht, dass sie Angst vor jeder Veränderung haben, weil es ihnen dann noch dreckiger gehen könnte, und das Realsozialismus-Fiasko hat ihre Befürchtungen eher bestätigt. Es reicht also nicht, die Systemfrage zu stellen, man muss schon eine sehr gute Systemantwort bereit haben, eine viel bessere als die Aussicht auf ein weiteres Realsozialismus-Fiasko. Das ist der Knackpunkt derzeit.