"Je mehr solcher Standorte ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann, und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht - das die Griechen phronesis, die Lateiner prudentia und das Deutsch des 18. Jahrhunder den Gemeinsinn nannten , und desto qualifizierter wird schließlich das Ergbenis meiner Überlegungen, meine Meinung sein."
Muss ich also mein Denken dem Nationalsozialismus, dem Maoismus, dem Salafismus, Scientology, dem Evangelikalismus, der Flache-Erde-These und jeder anderen noch so hirnverbrannten Denke Rechnung tragen, damit meine Überlegungen dann "qualifiziert" sind?
Was sagt denn der Nazi zum kategorischen Imperativ: "Wenn ich Jude wäre, würde ich freiwillig ins Gas gehen."
Es interessiert tatsächlich gar nicht, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle eines Anderen wäre. Das macht mich nicht zu dem Anderen. Im Gegenteil: Das eliminiert den Anderen einfach und setzt an seine Stelle mich selbst.
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Noch viel eher interessiert mich, was der Andere denken und fühlen würde, wenn er an meiner Stelle wäre. Es ist zumindest klar, dass ein Jude, wäre er an der Stelle eines Nazis, keine anderen Juden ins Gas schicken würden.
Was ist zudem, wenn sich der überwiegende Teil meiner Mitmenschen (inklusive Hannah Arendt) schlichtweg weigert, meine eigenen Ansichten auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweigedenn darauf einzugehen? Ist es dann nicht auch wichtig, mir Gehör zu verschaffen, ohne meine Ansichten denen anderer Menschen in vorauseilendem Gehorsam anzupassen? Wie sollen die anderen Menschen denn sonst meine Ansichten kennen und bei ihrer politischen Meinungsbildung berücksichtigen, ie es Hannah Arendt doch fordert. Wenn niemand mehr unbedarft seine Ansichten äußert, sondern alle schon immer einander berücksichtigen, dann kann niemand ja mehr wissen, was die anderen denn überhaupt denken und fühlen! Das ist dann wirklich totalitär.
Die naive Logik der Totalitarismuskritik ist mir zu einfältig und vor allem zu selbstwidersprüchlich. Wer den Status Quo als alternativlos setzt, denkt doch selbst (quasi-)totalitär.