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  • archenoe

mehr als 1000 Beiträge seit 05.02.2004

Das Elend bürgerlicher Kritik am Beispiel der Grundrechtsdiskussion

Wieder ein Beispiel, wie weit die "aufgeklärt" bürgerliche Kritik sukzessive an Reflexionsniveau verliert.

Auch wenn die wesentliche Kritik der Grundrechte im bürgerlichen Staat selbstverständlich nicht von den Befürwortern der bürgerlichen Staatskonstruktion formuliert wurde, so waren die Reflektierten unter ihnen durchaus in der Lage auch grundlegende Kritik zu diskutieren.

Diese Fähigkeit scheint nahezu völlig abhanden gekommen zu sein.

Grundrechte im bürgerlichen Staat sind mit wenigen, allerdings bedeutsamen Ausnahmen ideelle Rechte.

"Jeder hat das Recht auf ...", "gleichberechtigt", "haben das Recht", "sind das natürliche Recht" usw. sind typische Formulierungen in den Grundrechten. Da steht nicht, "jedem wird zugesichert und gewährleistet". Das wäre materielles Recht und das gibt es nur in allerdings zentralen Ausnahmen (dazu weiter unten).

Es gibt aber auch raffiniertere Formulierungen, bei denen nicht sofort deutlich wird, dass nur ein Recht auf etwas besteht und nicht etwa die tatsächliche Verwirklichung vom Staat (vom Gemeinwesen) gewährleistet wird. "... ist unantastbar", "sind unverletztlich" oder manchmal auch einfach nur "sind" oder "ist". Das kommt schon sprachlich ziemlich knallig und feststehend daher. Nur, was ist da jeweils "unverletzlich"? Z.B. die Würde oder Glaube, Bekenntnis, Weltanschauung u.a.m.
Ideen bzw. Gedankenkonstrukte werden für unverletzlich erklärt, keine materiellen Lebensfakten. Da macht es auch schon gar nichts mehr, direkt in den ersten beiden Sätzen im Art. 1 GG einen Antagonismus (= unauflösbarer Widerspruch) zu platzieren, denn wenn das Gedankenkonstrukt "Würde" "unantastbar" wäre, dann wäre es vom Staat sinnlos, sich zu verpflichten diese "Würde" "zu achten und zu schützen". Unantastbares zu schützen ist unmöglich. Nur, ein Gedankenkonstrukt ist ja tatsächlich unantastbar, weil es als Idee in Köpfen selbst durch Folter nicht zerstört werden kann. Der Staat, und das steht tatsächlich in den ersten beiden Sätzen dieses Grundgesetzes, verpflichtet sich also, etwas zu achten und zu schützen, was gar nicht materiell, sondern nur ideell existiert und deshalb gar nicht angetastet, verletzt oder zerstört werden kann. Obendrein verpflichtet der Staat sich nur, "zu achten und zu schützen". Das heißt ja noch lange nicht, dass es auch funktioniert. Die Bemühung zählt.
Na, verwirrt? Das ist Absicht, aber nicht von mir, sondern vom Grundgesetz (bzw. deren Macher).

Über die Formulierungen "darf" oder "darf/dürfen nicht" wäre Ähnliches zu sagen.

Klar ist, um ein schlagendes Beispiel aus dem GG zu wählen, dass durch das GG (bis auf zentrale Ausnahmen) gar nichts gewährleistet/gesichert wird, wenn man sich Art. 12, Absatz 1 vorknöpft.

In diesem Artikel wird das "Recht auf" freie Wahl (wenn auch nur für Deutsche - dass lasse ich hier mal weg) von "Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte" eingeräumt. Es wird kein Beruf, Arbeitsplatz und keine Ausbildungsstätte gewährleistet. Es wird nicht einmal zugesichert, dass der Staat alles daransetzt, derartig entscheidende materielle Verhältnisse für "seine" Bevölkerung zu sichern. Er wäre ja auch ein plumper Lügner, denn im demokratischen Kapitalismus ist da auch nichts zu gewährleisten. Im Gegenteil!
Die Freiheit der Wahl aber existiert tatsächlich - ideell eben -, nur eben keinerlei Gewährleistung, dass diese Wahl auch funktioniert - also nichts Materielles.

Kommen wir zu den Ausnahmen.

Gewährleistet wird in Art. 4 die "ungestörte Religionsausübung". Warum hier ein materielles Recht formuliert ist, benötigt als Erklärung eine kritisch-historische Herleitung, die ich mir hier erspare (auch wenn sie trotz massiver Austritte aus den christlichen Kirchen sehr wohl von Bedeutung ist).

Zentral ist die Gewährleistung von "Eigentum" und "Erbrecht" in Art. 14 GG. Materielles Recht in einem Meer ideeller Rechte. Und damit ist, eigentlich gar nicht so unauffällig, der Kern der demokratisch kapitalistischen Gesamtveranstaltung freigelegt. Es geht um Eigentum an den Produktionsmitteln, also um die Sicherung der Profite durch dieses spezielle Eigentum. Dass dabei zur Verschleierung der Grundbedingungen der herrschenden Produktionsverhältnisse auch die Armbanduhr, das Auto und das Eigenheim (mit denen keinerlei Profit zu erwirtschaften ist) prinzipiell geschützt werden müssen, ist willkommenes Beiwerk, denn es verstellt den klaren Blick auf den Kern der demokratisch-kapitalistischen Veranstaltung.

Die in Absatz 2, Art 14 nach gereichte Formulierung
"Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."
setzt diesem "freiheitlichen" GG die Krone auf. Eigentum verpflichtet zu nichts, außer zu seiner Nutzung oder, wenn es Kapital, also Eigentum an Produktionsmitteln ist, zu seiner Vermehrung.
Erklärt wird das für den Lesewilligen dann auch noch im zweiten Satz. Der "Gebrauch" des Eigentums "soll zugleich [sic!] dem Wohle der Allgemeinheit dienen". Muss nicht, aber soll. Das Wohl der Allgemeinheit besteht aus ideellen Rechten, ist also unbestimmt. Die Allgemeinheit gibt es nicht (siehe drastische soziale Ungleichheit als Folge der herrschenden Verhältnisse) usw. usw.

Das GG ist eine Fundgrube zur Erkenntnis über herrschende Verhältnisse.

Die Autorin des Artikels, der Anlass für meine fragmentarische Tour durch das GG war,
hat entweder von all dem keine Ahnung oder will es nicht wissen und sich stattdessen darüber beklagen. als Geimpfte für die nicht Geimpften im Sinne "der Freiheit" eintreten zu müssen/zu wollen.

Bürgerliche Kritik an bürgerlichen Herrschaftsverhältnissen war schon immer schwierig, ist aber inzwischen weit hinter sich selbst zurückgefallen.

(Habe keine Rechtschreibfehler mehr überprüft.)

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