Der Artikel fäng gut an. Dass Stadtimkerei eher eine Mode als eine ökologisch sinnvolle Massnahme ist, wird überzeugend dargestellt. Aber: je mehr man zum Ende kommt, desto fragwürdiger die Behauptungen. Die unausgesprochene Quintessenz des Artikels, dass man gegen das Insektensterben nichts zu tun braucht, weil die Massnahmen eh nichts helfen beziehungsweise sogar zu unerwarteten Rückschlägen bei anderen ökologischen Systemen führen können, klingt aber wie ein Greenwashing-Mem des Deutschen Bauernverbandes. Ich picke mir mal den Abschnitt "Blühstreifen" heraus:
Die Autoren der bekannten Krefelder Studie schlagen ökologische Fallen in der Agrarlandschaft als möglichen Grund für den von ihnen festgestellten, unerwartet hohen Insektenschwund vor. 43 Sie hatten einen Einbruch der Fluginsektenbiomasse von nahe 80 % binnen dreißig Jahren festgestellt, und zwar in deutschen Naturschutzgebieten, die von Agrarflächen umgeben sind. Trotz seit langem bekannter Abwärtstrends bei vielen Insekten 44 war dieser hohe Verlust an Gesamtmasse in den letzten Jahrzehnten beunruhigend.
Ich habe mir dann den Text der Studie (anhand der Fussnoten 43, 44) angeschaut. Da steht (Hervorhebung von mir):
The reserves in which the traps were placed are of limited size in this typical fragmented West-European landscape, and almost all locations (94%) are enclosed by agricultural fields. Part of the explanation could therefore be that the protected areas (serving as insect sources) are affected and drained by the agricultural fields in the broader surroundings (serving as sinks or even as ecological traps) [1, 63–65]. Increased agricultural intensification may have aggravated this reduction in insect abundance in the protected areas over the last few decades. Whatever the causal factors responsible for the decline, they have a far more devastating effect on total insect biomass than has been appreciated previously.
Die "protected areas" haben sich also deshalb zu ökologischen Fallen entwickelt, weil die Landwirtschaft drumherum über die Jahre immer intensiver betrieben wurde. Was macht die Autorin daraus? Sie dreht den Spiess herum: wer ökologische Schutzzonen in der Nähe intensiv betriebener Landwirtschaft einrichtet, ist selber schuld, wenn die Insektenpopulation zurückgeht! Das sagt der Text aber gar nicht.
Nächstes Zitat aus dem Artikel:
Zu den eher exotischen Überlegungen über ökologische Fallen kommen die Forscher, weil die Gründe für die Biomasse-Verluste, anders als öffentlich wahrgenommen, keineswegs klar sind. Einige der üblichen Verdächtigen für das Insektensterben ließen sich nämlich in der Krefelder Studie als Ursache ausschließen: An Klima- bzw. Wetteränderungen, Überdüngung oder Landnutzungsänderungen lag es eben nicht.
Die Forscher hegen aber durchaus einen starken Verdacht, wer am Insektensterben schuld ist, den die Autorin aus unbekannten Gründen aber nicht erwähnt:
Agricultural intensification, including the disappearance of field margins and new crop protection methods has been associated with an overall decline of biodiversity in plants, insects, birds and other species in the current landscape.
Und dann wird sogar noch das RWE'sche Braunkohleloch als Umweltschutzmassnahme deklariert:
Die Verteidiger des Hambacher Forstes wollen (sagen sie jedenfalls) neben dem Klima seltene Waldtiere schützen. Andererseits hat sich aber gerade der Braunkohletagebau als Segen für viele bedrohte Arten unter Schmetterlingen und Vögeln erwiesen,52 weil er Ödland und Abbruchkanten zurücklässt, Landformen, an denen es heute in Deutschland mangelt.
Ich lebe ganz in der Nähe, und ich weiss von einem Biologen, dass am Loch Bienenfresser gesichtet worden sind, ein sehr schöner, bunter Vogel, der seine Nisthöhlen bevorzugt in poröse Steilwände wie die Abbruchkanten des Tagebaus hineinbohrt. Freut mich natürlich für den Bienenfresser! Aber: da wo vor wenigen Jahren noch ein artenreicher, viele Quadratkilometer grosser Laubmischwald war, den es sonst hier im Rheinland nicht gibt, klafft jetzt ein viele Quadratkilometer grosses kahles Loch. Will mir die Autorin ernsthaft erzählen, dass dieses Loch von der Biodiversität auch nur ansatzweise mit dem ehemaligen Bürgewald mithalten kann? Hoffentlich nicht!
Der Relativismus, der sich am Ende des Artikel breitmacht ("Menschen zerstören zwar Ökosysteme, schaffen aber dadurch immer wieder neue"), stösst unangenehm auf. Vor allem das Plädoyer für eine noch intensivere Landwirtschaft (die dann, ginge es nach der Autorin, räumlich von Naturschutzgebieten zu trennen ist). Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die industrielle Landwirtschaft sich wieder zurückentwickelt zu einer, die ohne chemische Keulen und 500-PS-Trecker auskommt. Das wird aber eher durch katastrophische Ereignisse (Zusammenbruch der Wirtschaft, Dürren, Überschwemmungen) erzwungen werden als durch gesellschaftlichen Konsens.