Und ist Differenzierung eine überholte Vorstellung?
Versuchen wir das Ganze mal zu entwirren.
Der Artikel nennt drei Beispiele für "Jagd auf Frauen" bzw. weibliche Gewaltopfer "durch den Islamisten Kadyrow" (!):
Selima Ismailowa, Leyla Gireewa und Khalimat Taramowa.
Der Fall Leyla Gireewa hat mit Kadyrow oder Tschetschenien überhaupt nichts zu tun, weil er sich in Inguschetien ereignete. Um aber eine Verbindung zu Tschetschenien und Kadyrow zu suggerieren bezeichnet der Autor Inguschetien als "tschetschenische Nachbarrepublik Inguschetien". Frankreich wäre auf diese Weise der "deutsche Nachbarstaat Frankreich".
Die mittlerweile 24-jährige Khalimat Taramowa ist anscheinend, wie man nach etwas Recherche herausfindet, die Tochter eines früheren tschetschenischen Ministers namens Ajaba Tamarow. Sie floh in eine Frauenwohnung nach Dagestan, nachdem ihre Familie versucht hatte, sie von ihrer lesbischen Orientierung zu "heilen", auf welche Weise auch immer.
Das Frauenhaus wurde nach Informationen von "Radio Svoboda" übrigens nicht "von tschetschenischen Polizisten gestürmt", wie Gulka behauptet, sondern es lief über Amtshilfe durch die dagestanische Polizei.
> https://www.svoboda.org/a/podruga-pohischennoy-chechenki-halimat-taramovoy-uehala-iz-rossii/31446115.html
Glaubt Herr Gulka tatsächlich, dass ein früherer Minister in einer auf persönlichen Beziehungen aufbauenden traditionellen Clan-Gesellschaft wie der tschetschenischen den Präsidenten Kadyrow dafür bemühen muss, seine Tochter durch die dortige Polizei zur Fahndung auszuschreiben, um ihrer habhaft zu werden?
Tschetschenien scheint, zumindest tendentiell, eine patriarchalische Gesellschaft aus dem Bilderbuch zu sein, in der an der Spitze des Clans ein pater familias steht, die Clanmitglieder füreinander einzustehen haben und in der unverheiratete und damit "schutzlose" Töchter als Eigentum der Familie betrachtet werden. In welchem Maße das so ist wäre natürlich interessant zu erfahren. Die lang anhaltenden Kriege und die damit einhergehende Unsicherheit dürften eine Renaissance der Clan-Moral eher gefördert haben.
Selbst wenn Ajaba Tamarow kein Minister gewesen wäre hätten tschetschenische Polizisten vermutlich Verständnis für sein Anliegen gehabt, notfalls gegen einen Obulus "der traditionellen Ordnung" Hilfestellung zu leisten.
Was man ja daran ablesen kann, dass der Vater von Selima Ismailowa auch ganz ohne "connections" mit der Behauptung Diebstahl seine Tochter auf die Fahndungsliste setzen lassen konnte.
Der Fall der Tschetschenin Selima Ismailowa, mit welchem der Artikel eingeleitet wird, spielt überdies die ersten sechs Jahre in Deutschland, also im Milieu der Kadyrow-feindlichen tschetschenischen Emigranten. Was sollte denn bitte Kadyrow damit zu tun haben?
Dann flicht Gulka noch den Salafismus ein und zwar in einer Weise, die nahelegt, dass "der Islamist Kadyrow" den Salafismus verbreite und zwar anscheinend sogar unter der Kadyrow-feindlichen Emigrantenszene. Vielleicht hat Gulka diesbezüglich ja tatsächlich einfach Bildungslücken, aber es ist dennoch eine Irreführung. Ramsans Vater Achmat Kadyrow, der damalige Mufti von Tschetschenien, stellte sich im zweiten Tschetschenienkrieg ja gerade deshalb auf die Seite Moskaus, weil die arabischen Unterstützer der tschetschenischen Separatisten zwischen 1995 und 2001, als Moskau den Landstrich nicht kontrollierte, dort den Salafismus unter den "Warlords" massiv verbreitet hatten.
Was fehlt noch? "Die "Hilfe Moskaus", also anscheinend die der russischen Passkontrolle am Moskauer Flughafen. Was genau sollen Herrn Gulka zufolge russische Grenzbeamte tun, wenn vor ihnen am Schalter eine Frau auftraucht, die laut der Angaben in ihrem Computer zur Fahndung ausgeschrieben ist? Sollen sie sie passieren lassen, weil das Fahndungsersuchen aus der tschetschenischen Teilrepublik stammt und den Grenzbeamten bekannt ist, dass die Tschetschenen ein patriarchales Verhältnis zu ihren Töchtern pflegen?
Und nun noch einmal zu Kadyrow. Mir ist durchaus bekannt, wie der Kadyrow-Clan mit seinen Gegnern umgeht oder umzugehen scheint, dass einige spektakuläre Morde auf das Konto dieses Clans zu gehen scheinen, darunter solche an anderen tschetschenischen Clanführern, die auf Moskaus Seite gekämpft hatten (Oberstleutnant des FSB Baisarow, Oberst des GRU Ruslan Jamadajew, Oberstleutnant des GRU Sulim Jamadajew) oder an Boris Nemzow.
Mir ist auch bekannt, dass aufgeklärte Russen die tschetschenische Republik unter dem selbstherrlichen Kadyrow als Staat im Staate betrachten bzw. witzeln, dass Tschetschenien erst unter Kadyrow die volle Unabhängigkeit erreicht hätte. (Die Frage, warum das so ist, führt hier zu weit.)
Ich gehe sogar davon aus, dass Kadyrow, wenn er gefragt würde, den im Artikel geschilderten Umgang mit den jungen Frauen gutheißen würde.
Aber deshalb kann man doch nicht, aktuellen politischen Zweckmäßigkeiten folgend, sämtliche gesellschaftlichen Mißstände Kadyrow persönlich in die Schuhe schieben, zumal wenn man in dem Artikel eine kaukasische Politologin namens Saida Sirazhudinowa zitiert, die erklärt, dass "im Nordkaukasus ein System entstanden sei, Opfern häuslicher Gewalt Straftaten vorzuwerfen, um ihre Flucht zu vereiteln".
Der russische Nordkaukasus umfasst nämlich acht verschiedene muslimisch geprägte Republiken, von denen im Artikel drei genannt werden.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (17.06.2023 13:49).