Hier mal eine sehr genaue und nur an messbaren Fakten orientierte Analyse von Jens Berger auf den NDS...
ich bin bei Ihnen, dass diese Analyse um Größenordnungen besser ist als das, was üblicherweise publiziert wird. Allerdings hat sie m.E. trotzdem einige Schwachstellen.
(1) Seine Schlussfolgerung, dass der Zugang zum Gesundheitssystem entscheidend dafür ist, welche (Exzess-)Mortalität dann am Schluss resultiert, klingt zwar einleuchtend, kann aber nicht vollständig überzeugen. Der Zugang war mit Sicherheit in IT, ES, FR, UK nicht schlechter als bei uns (oder in Ländern mit vergleichbar verschwindender Exzess-Mortalität durch COVID-19 wie AT, DK). Auch müsste man, wenn man diesem Argument folgt, annehmen, dass der Zugang in New York City wesentlich schlechter war als im Rest der USA, also auch "in der Wildnis", weil NYC eine deutlich höhere Exzess-Mortalität hat als der Rest der USA.
Ein vergleichbares Argument ist, dass in FR die Exzess-Mortalität im Großraum Paris sowie in Grand Est deutlich höher ist als im Rest des Landes.Vergleichbares gilt in IT für die Lombardei und dem Rest des Landes oder etwas schwächer in der CH zwischen der Romandie und dem Tessin im Vergleich zum Rest des Landes. Ich kann hier nirgends erkennen, dass der Zugang oder Qualitätsunterschiede (s.u. (3)) eine Erklärung bieten könnten.
(2) Auch der Hinweis auf die Altersstruktur in der Lombardei kann nicht wirklich überzeugen, weil z.B. DE einen noch höheren Altersmedian hat (vgl https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Medianalter). Die USA und das UK haben im Vergleich dazu extrem junge Bevölkerungen, aber sehr viel höhere Exzess-Mortalitäten, was dem Argument dann endgültig den Boden entzieht.
(3) Man könnte versuchen, das Argument "Zugang zum Gesundheitssystem" damit zu retten, dass man unterstellt, dass nicht der Zugang an sich ausschlaggebend ist, sondern die Qualität. Auch dieses Argument ist m.E. nicht tragfähig, weil ich nicht erkennen kann, dass bei allen Unterschieden die Qualität der Gesundheitssysteme in IT, ES, FR so massiv gegen die Gesundheitssysteme in DE, AT, DK abfällt.
(4) Das NHS in UK ist ein eigenes Kapitel, aber auch hier kann das Argument der Qualität und des Zugangs die massiven Unterschiede in der Mortalität zwischen (grob) dem Großraum London und dem Rest des UK nicht erklären. Das NHS ist dann auch das überzeugendste Argument, dass Ihre Schlussfolgerung "...Die meisten sind dort wohl ehr an der Privatisierung des Gesundheitssystems gestorben..." wohl den Nagel doch nicht auf den Kopf trifft.
(5) Was ist dann der wirkliche Grund? Abgesehen davon, dass es wohl keinen einzelnen Grund gibt, sondern ein Zusammenspiel mehrerer, kann man zumindest einen Verdacht hegen. Es ist bekannt, dass in IT, ES, UK-EN und NYC Krankenhäuser geräumt wurden, indem man auf behördliche Anordnung COVID-19-Erkrankte, die keine Intensivpflege benötigten, in Senioren- und Pflegeheime "auslagerte", um Betten in den Krankenhäusern frei zu machen. Dies war natürlich primär zu Beginn der Pandemie der Fall, d.h. zu Zeiten, in denen es kaum geeignete Schutzausrüstung gab. Man kann daher annehmen, dass durch diese Aktionen das Virus unbeabsichtigt, aber retrospektiv betrachtet hochwirksam genau an die primäre Problemgruppe, Alte und Kranke, "heran getragen" wurde. Dies würde erklären, warum gerade IT, ES, UK-EN und NYC solch hohe Exzess-Mortalitäten aufweisen. M.W. ermitteln daher auch verschiedene Staatsanwaltschaften in IT und ES wegen des Verdachts auf (im deutschen Sprachgebrauch) fahrlässigen Totschlags.
In FR und BE, die ebenfalls sehr hohe Exzess-Mortalitäten haben, sind mir solche Aktionen nicht bekannt. Dem müsste man ggfs nachgehen, aber m.W. ermitteln auch hier Staatsanwälte.
(6) Der Artikel geht auf die Problematik der Exzess-Mortalität ein und beleuchtet sie aus einigen Blickwinkeln. Man muss ganz einfach schlussfolgern, dass auch die Betrachtung der Exzess-Mortalität nicht die Frage klären wird, ob jemand mit, wegen oder trotz COVID-19 starb. Abgesehen davon, dass das Herunterbrechen einer statistischen Größe (Exzess-Mortalität) auf ein Individuum (dessen Todesursache) nur mit dem Begriff "Zombie-Wissenschaft" beschrieben werden kann, wird auch eine Obduktion in den wenigsten Fällen die Todesursache eindeutig klären, insbesondere nicht bei Verstorbenen mit bekannten Vorerkrankungen.
Bei aller Kritik ist und bleibt die Exzess-Mortalität das beste und im Kern auch einzige Mittel, um die Auswirkungen einer Pandemie, die als eindeutig identifizierbare und zeitlich eingrenzbare Welle auftritt, zu beschreiben und zu quantifizieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass damit auch Todesfälle erfasst werden, die absolut nichts mit COVID-19 zu tun haben, ist, wie der Autor schreibt, zu vernachlässigen. Über diese Wahrscheinlichkeit kann man lange und aufgeregte Diskussionen führen, einen Erkenntnisgewinn kann man aber aus diesen Diskussionen nicht erwarten.