Drehbuch mit Fantasie

Für mich klingt der Artikel, wie übrigens etliche Artikel vom Quincy Institute for Responsible Statecraft-Autor Anatol Lieven, wie ein sich aus den Fingern gesogenes Drehbuch in dem zur aktuellen Situation ein wunschgerechtes Vorher konstruiert wird und das dann als Analyse verkauft werden soll.

Es stimmt, dass Schoigu und Gerassimow den Einmarsch in die Ukraine mit ungeheurer Inkompetenz, Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod und dem Leid der Zivilbevölkerung geplant und durchgeführt haben. Da beide seit 2012 in ihren jetzigen Positionen sind, tragen sie auch die direkte persönliche Verantwortung für das logistische Chaos, die mangelnde Koordination und den allgemein beklagenswerten Zustand der russischen Streitkräfte.
Ebenso zutreffend sind Prigoschins Angriffe auf die Korruption der Elite, die Steuer- und Militärdienstvermeidung der Reichen und schließlich – am auffälligsten von allem – die Lügen über die Ukraine, die das Regime (und vor allem Putin selbst) zur Rechtfertigung der Invasion verbreitet hat.

Wenn ich mich recht erinnere wurde immer bemängelt, dass der Vormarsch nicht schnell und rücksichtslos genug erfolgen würde, dass zu viel Rücksicht auf die Bevölkerung genommen worden wäre. Übermässige Brutalität macht auch keinerlei Sinn wenn die Perspektive ist, dass die gebiete später Teil der russischen Föderation werden sollen. Damit würde man sich selbst späteren Terror züchten. Aber ich weiss, dass strategische Fähigkeiten bei russischen Planern nicht zum Einsatz kommen ist Allgemeinwissen.

Gibt es denn Analysen von Herrn Lieven zur Korruption der Elite, die Steuer- und Militärdienstvermeidung der Reichen und schließlich – am auffälligsten von allem – die Lügen über die Ukraine, die über Unterstellungen hinausgehen und mit Belegen untermauert werden. Dass in den Eliten Korruption und Steuervermeidung herrscht wie sie praktisch in allen Ländern vorkommt, davon gehe ich schon aus, aber gibt es da ein Alleinstellungsmerkmal Russlands beim Grad der Verkommenheit, z.B. im Vergleich mit den Verteidigern der westlichen Werte Ukraine?

Er hat immer, wenn es möglich war, indirekte, halb verdeckte und einfacher zu leugnende Methoden der direkten militärischen Gewalt vorgezogen. Daher sein Zögern, in die Ukraine einzumarschieren, worauf ihn Hardliner innerhalb seiner Regierung lange gedrängt hatten.
Daher auch seine Unterstützung von Wagner, das als "privates Militärunternehmen" russische Ziele im Donbass, in Syrien und in Afrika verfolgen konnte, während die russische Regierung sich offiziell von ihren Aktionen distanzieren konnte.

Unterstellt der Herr Lieven da ganz nebenbei, dass die Aktionen Wagners immer differenziert betrachtet wurden und nicht automatisch mit Russland in Verbindung gebracht wurden? Denn nur dann hätte Putin ja möglicherweise einen Grund gehabt halb verdeckt und leugnend Wagner vorzuschicken. Oder glaubt Herr Lieven allen Ernstes Putin hätte nicht damit gerechnet, dass Wagner-Interventionen ihm zugerechnet werden?

Schließlich wird die Wagner-Revolte, so kurz und erfolglos sie auch gewesen sein mag, unweigerlich die Spekulationen darüber wieder anfachen, ob Putins Ansehen dermaßen stark geschädigt ist, dass er beschließen könnte, bei den (laut Verfassung) Anfang nächsten Jahres anstehenden Wahlen nicht erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren und stattdessen das Amt an einen gewählten Nachfolger zu übergeben (so wie es Präsident Jelzin 1999 getan hat).

Die Twists im Drehbuch beherrscht Herr Lieven offenbar, nachdem er in der Einleitung noch von

"Präsident Putin ist gestärkt aus dem hervorgegangen, was auch immer am Wochenende in Russland geschehen sein mag. Gestärkt jedenfalls im Vergleich zu seiner Situation vor zehn Tagen – was nicht viel heißt."

die Rede war.
So ist wenigstens sichergestellt dass Herr Lieven bei der nächsten Wahl in Russland, egal ob Putin antritt oder nicht oder ob er gewählt wird oder nicht, belegen kann, dass das zukünftige Ergebnis nicht überrascht und schon entsprechend aus seinen Analysen hervorgeht.