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  • jfmprof

844 Beiträge seit 24.09.2021

Fragwürdiger Nutzen der Pockenimpfpflicht

Ich selber habe noch jemanden kennengelernt, der in der DDR durch eine verunglückte Pockenimpfung erblindet ist. Hintergrund ist hier der, daß man mein Studienfach auch mit starker Sehbehinderung studieren konnte und einer meiner Kommilitonen eine solche hatte. Das Abitur für derartige Schüler war in der DDR zentral in Königs Wusterhausen, und die Absolventen haben sich oft gegenseitig besucht. Das Impfopfer hat Linguistik studiert, was man auch als Vollblinder tun konnte. Daher die flüchtige Bekanntschaft. Solche Fälle sind anscheinend nicht extrem häufig gewesen, aber es hat sie gegeben und auch Todesfälle kamen wohl vor.

Nach dem Aufkommen von COVID-19 waren ja teilweise Berichte über frühere Epidemien in der Presse, darunter auch über die Pocken. Einen über einen Ausbruch in Lammersdorf habe ich hier schon früher verlinkt https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Was-wir-im-Corona-Schockraum-und-im-Corona-Newsroom-uebersehen/Pockenimpfung/posting-40009831/show/. Da hat es trotz Impfplicht Todesfälle gegeben, etwa eine Patientin, die die Einweisung eines an Pocken erkrankten Mädchens unvorsichtigerweise in einigem Abstand am offenen Fenster [!] beobachtet hat, oder auch eine Krankenschwester, die den Arzt Günter Stüttgen behandelt hat, der sich selber angesteckt hatte. Die Ärzte haben sich damals anscheinend oft geweigert, in diese Gegend zu fahren, ausgenommen einige mutige Leute wie Stüttgen und sein Doktorand Constantin Orfanos. Anscheinend funktionierte diese Impfung längst nicht so gut, wie es manche Leute glauben, und den Ärzten war das auch klar. Ich gehe mal davon aus, daß man in der DDR in einer vergleichbaren Lage einfach Ärzte der NVA abkommandiert hätte, die man im Weigerungsfall an ihren Fahneneid erinnert hätte. In der Bundesrepublik ging das ja nicht so problemlos.

Ein anderes Beispiel ist ein Ausbruch 1960 in Moskau, https://de.rbth.com/geschichte/83223-pocken-epidemie-sowjetunion . Auch hier würde ich einmal unterstellen, daß die meisten exponierten Personen Impfschutz hatten. Trotzdem sind drei von 45 Infizierten gestorben, darunter der Indexpatient. Ohne Impfung soll die Mortalität bei durchschnittlichen Wildtypen bei etwa 30% liegen. Damals haben sie in einer Woche 9,5 Millionen Einwohner von Moskau nebst Vorstädten noch einmal durchgeimpft. Die übliche Grundimpfung senkt zwar im Abstand einiger Jahrzehnte anscheinend immer noch die Mortaliät, wenn auch auf einen unakzeptabel hohen Wert, aber hätte möglicherweise nicht ausgereicht, um den Ausbruch einer Epidemie in Moskau zu verhindern.

Bei einem ähnlichen Ausbruch in (glaube ich) New York etwa zur selben Zeit haben sie ebenfalls nochmal schnell einige Millionen Menschen geimpft.

Mir scheint es also durchaus möglich, daß die damals geltende Impfpflicht gegen Pocken mehr Todesopfer gefordert als verhindert hat. Eine sinnvollere Politik wäre möglicherweise gewesen:

(a) Eine aktuell aufgefrischte Impfung für Ärzte mit allgemeinmedizinischer Praxis verpflichtend zu machen. Wer mit Pocken infiziert und infektiös ist, ist anscheinend in der Regel ernsthaft krank und geht zum Arzt. Für die Hausärzte wäre also das Risiko, sich selber zu infizieren und entsprechend auch als Multiplikatoren zu wirken, größer als in der Allgemeinbevölkerung.

(b) Eine aktuell aufgefrischte Impfung verpflichtend für Einreisende aus Risikogebieten. Wem das nicht gefällt, der muß eben in Quarantäne. In den beiden oben verlinkten Fällen hätte das verhindert, daß der Indexpatient sich ansteckt bzw. die Infektion ins Land trägt.

(c) Immer genug Impfstoff auf Lager haben, um im Fall eines Ausbruchs zur Not die ganze Bevölkerung zu impfen. Natürlich würde man es erst in dem betroffen Gebiet machen. Wer nicht will, würde halt für zwei oder drei Wochen in Quarantäne kommen. Wenn das nicht hilft, kann man halt in kurzer Zeit die gesamte Bevölkerung Deutschlands durchimpfen. Großartigen Druck müßte man dazu in einer solchen Situation wahrscheinlich nicht ausüben.

Im Hinblick auf die durchaus begrenzte Wirksamkeit der Pockenimpfung (wenn auch besser als anscheinend die Corona-Impfungen) bei erheblicher Gefährlichkeit (anscheinend viel schlimmer als bei Corona) scheint es durchaus möglich, daß diese flexible Strategie mehr Leben gerettet hätte als die Impfpflicht gegen Pocken. Punkt (c) wäre natürlich teuer, aber wegen der im Laufe der Jahre nachlassenden Schutzwirkung der Pockenimpfung ohnehin erforderlich.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (11.02.2022 13:19).

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