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  • keus

843 Beiträge seit 13.04.2020

Re: Situation in Schweden - Zahlen und Einschätzungen

https://www.capital.de/wirtschaft-politik/schwedens-sonderweg-alles-anders

Schwedens Sonderweg: Alles anders
Schweden macht in der Corona-Pandemie einiges anders, einen harten Lockdown hat es noch nicht gegeben. Inzwischen ist der Sonderweg aber umstritten. Wie erfolgreich ist die schwedische Strategie und was bedeutet sie für die Wirtschaft?
von Charlotte Raskopf, 20. Dezember 2020
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Insgesamt meldet das Land laut des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) bislang mehr als 320.000 Infektionen – im Verhältnis zur Einwohnerzahl sind das beinahe doppelt so viele Infektionen wie in Deutschland. Auch mit Blick auf die Todesrate steht Schweden nicht gut da: Pro 100.000 Einwohner sterben laut ECDC 73,45 Menschen im Zusammenhang mit einer Covid-Erkrankung. In Deutschland sind es 26,47.

Schaut man auf Schwedens direkte Nachbarländer Norwegen und Finnland, so zeigt sich ein noch drastischerer Unterschied: Während es in Schweden mehr als 3000 Erkrankte pro 100.000 Einwohner gibt sind es in Norwegen nur etwas mehr als 750, in Finnland etwas über 550. Die Zahl der Corona-Toten pro 100.000 Einwohner ist in Norwegen derweil rund zehn Mal niedriger als in Schweden.
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Mit Blick auf die hohen Infektions- und Todeszahlen erklärte der schwedische König Carl XVI. Gustaf die schwedische Strategie kürzlich für „gescheitert“ – ein bedeutendes Signal, denn eine derartige politische Äußerung des Königshauses ist selten. Ein ähnlich hartes Urteil fällte zuletzt die schwedische Corona-Kommission: Schweden habe es nicht geschafft, ältere Menschen vor dem Virus zu schützen. Altenpflegeheime seien schlecht auf die Pandemie vorbereitet gewesen. In Schweden sind laut der Corona-Kommission 90 Prozent der Corona-Toten über 70 Jahre alt, die Hälfte von Ihnen lebte in Pflegeeinrichtungen.

Angesichts der zweiten Corona-Welle gibt es auch in Schweden zunehmend Einschränkungen: So sind derzeit öffentliche Versammlungen mit mehr als acht Personen verboten, ebenso wie Alkoholausschank nach 22 Uhr.
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Für Bereiche wie Hotellerie, Gastronomie, Tourismus, Messen und Veranstaltungen sei ein Ende der Krise noch nicht in Sicht. Auch im bilateralen Handelsgeschäft zwischen Schweden und Deutschland erwarte man in diesem Jahr einen Rückgang von etwa acht Prozent.
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„Im Vergleich mit anderen Ländern, hat es Schweden wirtschaftlich nicht so hart getroffen“, sagt auch Lars Calmfors, Ökonom und Professor am Institute for International Economic Studies der Stockholm University. Es sei aber schwierig zu sagen, inwiefern das allein mit der schwedischen Strategie zusammenhänge. „Da spielen viele weitere Faktoren hinein: ökonomische Strukturen, fiskale Unterstützungsmaßnahmen, die Ausbreitung des Virus“, sagt er. Betroffen seien vor allem die Bereiche der Wirtschaft, die direkten Kontakt erfordern, wie der Tourismus, die Eventbranche und die Gastronomie. Der Industrie gehe es hingegen nach einem Einbruch im Frühjahr besser und auch der Onlinehandel sei deutlich gewachsen. Mit Blick auf die hohen Infektions- und Todeszahlen gibt er aber zu bedenken: „Wir haben ökonomisch vielleicht etwas gewonnen, aber der Preis dafür war mit Blick auf verlorene Menschenleben sehr hoch.“
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Calmfors gehört zu den Kritikern der Corona-Strategie der schwedischen Regierung und plädiert für stärkere Einschränkungen – auch im Sinne der Wirtschaft: „Ich denke, wenn wir für einige Wochen einen strikten Lockdown hätten, würde die Wirtschaft in diesem Zeitraum zwar leiden, wir würden langfristig aber profitieren“, sagt er. So könne man die Infektionszahlen senken und benötige weniger spontane Eingriffe. Zu einem früheren Zeitpunkt hätte es den Konflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit noch nicht gegeben, ist Calmfors sicher. „Da hätte es ausgereicht, beispielsweise Quarantäneregeln zu erlassen, öffentliche Versammlungen einzuschränken und Tests auszuweiten. Das wäre gut gewesen für die Eindämmung der Pandemie und für die Wirtschaft.“
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„Vor diesem Hintergrund ist die Stimmung im Land derzeit eher von Zuversicht geprägt, wenn auch nicht in allen Branchen“, sagt Valle Wigers, Pressesprecher der Deutsch-Schwedischen Handelskammer.
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„Grundsätzlich sind die Unternehmen sicherlich dankbar, etwas Normalität im Geschäftsalltag zu haben.“ Die Regierung appelliere lediglich an die Betriebe, so viele Angestellte wie möglich von zu Hause aus arbeiten zu lassen.

Hier sei Schwedens Position als Vorreiter in der Digitalisierung von großer Bedeutung. Schweden liegt im Digital Economy and Society Index der EU-Kommission nach Finnland auf dem zweiten Platz. „Für die allermeisten Unternehmen war es keine größere Herausforderung, auf Homeoffice umzustellen“, sagt Wigers.
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Der schwedische Sonderweg wird international diskutiert. Die einen halten ihn für ein positives Beispiel, wie man die Wirtschaft in der Corona-Krise schützen kann, die anderen lehnen ihn mit Blick auf die Infektionszahlen strikt ab. „Es ist zu früh, Bilanz zu ziehen“, sagt Valle Wigers. Welche Strategie am besten funktioniere, wisse man erst, wenn die Pandemie vorbei sei.
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Auch in Schweden sind sich längst nicht alle einig, welcher Weg nun der richtige ist. Der schwedische Sonderweg polarisiere die Gesellschaft, sagt Calmfors. „Wir erleben ein geteiltes Schweden, ähnlich wie die Polarisierung zwischen Demokraten und Republikanern in den USA“, sagt er. Es gebe zwar keine Demonstrationen und einen weitgehenden Konsens in der Politik, aber eben nicht in der Bevölkerung.

„Es gibt Stimmen in Schweden, die sagen, die wirtschaftlichen Folgen seien schwerer als die gesundheitlichen, weil es vor allem Menschen über 70 Jahren trifft“, sagt Calmfors. „Das erschüttert mich sehr. Als sollten wir Menschen nicht zählen, nur weil sie über einer bestimmten Altersgrenze sind. Damit begibt man sich auf sehr dünnes Eis.“

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