Der Artikel des geschätzten Autors vermischt Wunschdenken mit Halbwahrheiten, denn es existieren keine zwei von "der Wissenschaft" (Kolenda) gut begründeten Aufrufe und Aktionspläne, sondern eben nur einige Meinungsäußerungen eher unerheblicher Wissenschaftler, die leider Kernfragen vermeiden.
Angeblich, so die Idee der sogenannten Null-Covid-Strategie, "retten niedrige Fallzahlen Arbeitsplätze und Unternehmen. Die Volkswirtschaften können und werden sich schnell erholen, sobald das Virus stark reduziert oder beseitigt ist." (Kolenda) Glaubt irgendein seriöser Wissenschaftler ernsthaft daran, das Erkältungsvirus SARS-CoV-2 vom Planeten eliminieren zu können? Bei welchen Erkältungsviren hat dies trotz alljährlicher Epidemien samt diverser Impfungen, und also theoretisch Herdenimmunität, denn bisher geklappt? Warum kehrte SARS-CoV-2 mit mehr als zehn Neuinfektionen pro einer Million Menschen pro Tag wieder zurück, obwohl "wir im Sommer letzten Jahres diese Zielmarke über viele Wochen schon unterschritten hatten" (Kolenda)? Sollte es sich gar um ein saisonales Virus handeln?
Natürlich könnte die Menschheit Glück haben, und das neue Coronavirus verschwindet wie sein älterer Vorläufer ganz von alleine und ohne menschliches Zutun wieder spurlos, doch vermutlich wird diesmal selbst die Impfung nichts an der Existenz ständig neuer Mutanten ändern, und man wird mit dem Ding eben leben müssen, wie es die Menschheit etwa mit der Influenza und hier vielen Millionen Toten über die Jahre schließlich auch muss. Nur rund sechs Prozent der sogenannten Coronatoten sind unter 65 Jahre alt, während das bei schweren Grippepandemien auch schon ein Drittel (Asiatische Grippe) oder rund die Hälfte (Hongkong-Grippe) oder fast alle (Spanische Grippe) waren. Was ist heute so anders?
Das politische Versagen besteht doch im Kern darin, dass es seit knapp einem Jahr nicht zu gelingen scheint, stationäre Einrichtungen wie Senioren- und Pflegeheime oder auch diverse ambulant betreute Pflegebedürftige angemessen zu schützen, eben weil jene besonders gefährdeten Menschen zugleich leider sogar über ungewöhnlich viele enge Sozialkontakte verfügen, denn viele müssen beispielsweise von vielen verschiedenen Menschen regelmäßig gewaschen und gefüttert werden. Und wenn nicht mal in stationären Einrichtungen mit bekannten Kontaktpersonen die Analyse von Infektionsketten gelingen will, wo dann? Und wieso sollten Kontaktpersonen von Infizierten überhaupt wahrheitsgemäß Auskunft geben, wenn zugleich stets die Straftatbestände der fahrlässigen oder vorsätzlichen Körperverletzung, eventuell mit Todesfolge, gegen sie im Raum stehen? Es gibt viele Gründe, warum wenig funktioniert.
Womit man dann bei dieser Initiative Zero-Covid wäre, die sich zwar solidarisch gibt, jedoch die Opfer staatlichen Versagens seltsamerweise vollkommen vergisst. Warum nicht etwa 10.000 Euro Entschädigung jedem SARS-CoV-2-Infizierten und 100.000 Euro den Hinterbliebenen jedes Todesopfers zusprechen? Neben dem offenkundigen Mangel an Solidarität mit den eigentlichen Opfern der Epidemie lässt auch dieser Aufruf die zentrale Frage offen, wie es denn weiterginge, falls man, etwa nach zweimonatigem superharten Shutdown wie anfangs in China, plötzlich feststellen sollte, dass das Virus zurückkommt.
Aus meiner Sicht sollten sich die selbsternannten Fachleute beider Aufrufe, denen es wohl vor allem darum geht, möglichst viele Leben zu retten, dazu äußern, ob sie nicht konsequenterweise künftig für jedes Winterhalbjahr gleiche Kontaktbeschränkungen fordern müssten, und zwar gerade auch wegen der alljährlichen Influenza, gegen die Impfungen hochaltriger Personen erfahrungsgemäß viel weniger wirksam sind, als man sich das gegen Covid-19 aktuell erhofft, und die so jährlich Tausende hilflose, weil kaum geschützte Menschen auf ganz ähnliche Weise wie durch SARS-CoV-2 das Leben kostet.