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  • Der Psychater

421 Beiträge seit 05.04.2020

Herr Mearsheimer verniedlicht den russischen Imperialismus

Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass die Zukunft der Ukraine eine gute wäre, wenn sie militärisch neutral bliebe, also nicht der NATO beitreten würde. Auch dachte ich, es wäre für sie möglich, sowohl mit der EU als auch mit Russland sich ökonomisch zu assoziieren.

Letzteres zersprang, nach den EU-Ukraine-Gesprächen von 2013, als der damalige EU-Präsident Baroso erklärte, dass es nicht möglich sei, obwohl das Wunsch des damaligen ukrainischen Präsidenten sowie der Bevölkerung war. Warum es nicht möglich war, habe ich nie verstanden, das wurde auch nicht weiter erklärt, sondern als Fakt in den Raum gestellt. Die Maidan-Proteste schlossen sich der gescheiterten EU-Assoziierung an, was mich darauf aufmerksam werden ließ, dass ein bedeutender Teil der ukrainischen Bevölkerung eine Nähe zur EU als Hoffnung für eine prosperierende Zukunft verstand.

Die ganzen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Ukraine ubd Russland, die mit der orangenen Revolution begannen, haben mir gezeigt, dass der panslawistische Imperialismus für Russland entscheudend war. Für Moskau durfte weder die Ukraine, noch Belarus souverän sein. Diese Staaten sind für Moskau Teil Russlands. In einem solchen territorialen Anspruch liegt ein ungeheuerlicher Konflikt. Nicht nur, dass die UN-Charta verletzt wird, nicht nur, dass Moskau über lang zurückliegende geschichtliche Ereignisse revisionistisch denkt. Moskau formuliert hier einen für Europäer unannehmbaren Gedanken: Dass souveräne Staaten ihre Souveränität verlieren, wegen Ansprüchen, die historisch begründet werden. Wenn alle europäischen Staaten so handeln würden, gäbe es einen großen europäischen Krieg. Beinahe jedes Land in Europa hatte in seiner Geschichte mal Ansprüche auf Territorien und Staaten, die heute souverän sind. Mit gleichem Recht könnte also z.B. Rom das römische Reich zurückfordern, was ziemlich absurd klingt.

Herr Mearsheimer betrachtet die Situation, die zum Krieg geführt hat, nur aus der Sich des US-Imperiums, welches mit der Ukraine seine Ostgrenze erweitern wolle. Ich denke, es ist die Ukraine selbst, die sich vor dem russischen Imperialismus schützen möchte. Zudem, wenn man die Bevölkerung in Belarus befragen würde, möchten diese sicherlich auch lieber Souveränität in Europa haben, als bloß ein fiktives Volksanhängsel der Russen zu sein. Für Russland eine Katastrophe.

Vielleicht möchten die Kanadier ihre Souveränität gegenüber den USA aufgeben? Sicherlich könnte man irgendwelche Ansprüche finden, wonach alle nordamerikanischen Einwanderer historisch-kulturell doch eigentlich gleichen Ursprungs wären, also eine Nation sein könnten, nicht? Und wenn sie nicht wollen, dann würde Washington halt entsprechend Druck ausüben, oder? Und Herr Mearsheimer würde sagen können, die Kanadier stellen eine existenzielle Bedrohung für die USA dar, weil sie die amerikanische Welt, die gemeinsamen Wurzeln, die gemeinsame Geschichte nicht anerkennen? Eigentlich war es ein großer Fehler, den us-amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen England nicht auf Kanada auszuweiten, das ja schon die Wikinger entdeckten und nicht die Briten. Was meinen Sie, Herr Mearsheimer? Zu den Waffen?

Mit diesem Bullshit möchte ich nur klarmachen, dass Herr Mearsheimer den Charakter des russischen Imperialismus nicht berücksichtigt. Der Panslawismus, auf den sich Putin in seiner "Kriegserklärung" vom Februar 2022 beruft, ist ein bedeutendes russisches Motiv für den Krieg, zugleich ist er eine enorme Hürde für Friedensvereinbarung, nicht zuletzt, weil er den erst knapp 70-jährigen Frieden in Europa grundsätzlich in Frage stellt. Und mit Bullshit lässt sich schlecht verhandeln.

Herr Mearsheimer, sind Sie vielleicht zu US-zentriert und verstehen deshalb Europa und seine Kriege nicht?

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