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  • teutolith

mehr als 1000 Beiträge seit 25.03.2014

Objektivität, Neutralität, Indifferenz

"Muss ich den völkerrechtswidrigen Charakter der russischen Invasion dem Leser in meinem Artikel, meinem Lead-Satz, meiner Überschrift, meiner Moderation, meiner Bildunterschrift oder meinem Kommentar qua Bestimmungswort "Angriff" einhämmern? Inwieweit verlasse ich damit die journalistische Neutralität?"

Die Frage ist, was man bei TP unter journalistischer Neutralität versteht. Die Sicht des Aggressors darzustellen, weil die meisten anderen Medien sich auf die Seite des Opfers stellen? Versucht das mal bei einem Artikel über den Zweiten Weltkrieg, der Presserat wird euch was erzählen. Objektiv gesehen ist die russische Invasion ein Angriffskrieg. Das gilt es nicht "einzuhämmern", sondern einfach nur festzustellen. Alles andere ist Indifferenz gegenüber dem fundamentalen Unterschied zwischen illegaler Aggression und gerechtfertigter Verteidigung.

Eingehämmert wird einem hier bei TP allerdings stattdessen die russische Darstellung, daß "eigentlich" ja die NATO, die "Provokationen des Westens", die "Vorgeschichte" ... Penetrant bis zum Erbrechen, Artikel auf Artikel. Man weiß ganz genau, daß man die Russen nicht als unschuldig verkaufen kann, also versucht man, wenigstens beide Seiten als irgendwie gleich schuldig hinzustellen. Und da die Seite der Opfer ja schon überall zu Wort kommt, macht man sich zum Sprachrohr der Täter und ihrer Lakaien im Westen. Und das auch noch im Namen der journalistischen Neutralität. Also ich nenne das Parteinahme.

Der Artikel über Medwedjews jüngste Drohung ist ein Beispiel für diese Schein-Neutralität. Es fehlt jeder Hinweis darauf, daß es sich um eine neue Qualität einer nuklearen Drohung handelt, um eine nukleare Erpressung und Geiselnahme der gesamten Welt, mit der ganz konkrete Kriegsziele erreicht werden sollen. Der Westen soll die Ukraine daran hindern, ihr Land von den Invasoren zu befreien. Er soll dafür sorgen, daß die ukrainische Offensive scheitert, oder es droht ein "globaler nuklearer Brand", ausgelöst durch Putin wegen irgendeines von demselben Putin erlassenen Dekrets. Der Artikel empfiehlt, die Drohung ernstzunehmen - was man kaum anders verstehen kann denn als Aufforderung, der Erpressung nachzugeben. Kein Wort dazu, was das geopolitisch für eine Büchse der Pandora öffnen würde. Oder dazu, daß allein diese Drohung ausreichen sollte, Rußland aus dem UNO-Sicherheitsrat zu schmeißen und Putin, Medwedjew usw an die obersten Stellen einer internationalen Terror-Fahndungsliste zu setzen. Oder nimmt der Autor die Drohungen etwa selbst gar nicht so ernst?

Was bleibt, ist ein Artikel, der erkennbar beim unbedarften Leser eine Reaktion wie diese auslösen soll: "Also wenn ich mich entscheiden muß, ein paar Oblasten der Ukraine den Russen zu überlassen oder selbst in einem atomaren Inferno zu enden ..." Journalistische Neutralität vom Allerfeinsten.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (02.08.2023 09:25).

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