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Avatar von Guckstu
  • Guckstu

mehr als 1000 Beiträge seit 18.03.2024

Zum "Appell der 38"

Der wird ja im Interview als Anlass und Grundlage für das Interview genommen, also sollte man wissen, was von diesem Appell zu halten ist.

Erstmal eine richtige Aussage, um den Kontext herzustellen:
"Die Last-Minute-Entscheidung des US-Präsidenten Biden, Angriffe auf Russland mit von den USA gelieferten Raketen zu genehmigen, hat eine neue Eskalationsstufe eingeleitet."
Also: Richtig, aber sehr einseitig.
Die russische Seite hat schon vorher jede Menge Eskalationsstufen nicht nur eingeleitet, sondern längst vollzogen: Morde im europäischen Ausland, Einsatz von thermobarischen Bomben, Einsatz von Streumunition, Massaker an Zivilisten, Vereinnahmung noch nicht mal eroberter Gebiete durch Ändern der russischen Verfassung, Fake-Volksabstimmungen zur Annektion, Gleitbomben und Marschflugkörper auf zivile Infrastruktur und sogar auf rein zivile Gebäude, Anwerben ausländischer Söldner und Übernahme von regulären Soldaten mindestens eines anderen Staates.
Die Eskalation geht gar nicht vom Westen aus. Sie geht von Russland aus.
Es wäre schön, wenn man deeskalieren könnte, aber mir fällt nichts ein - und im Appell steht dazu auch nichts Wirksames, dazu siehe weiter unten.

"Inzwischen haben auch Großbritannien und Frankreich nachgezogen."
Hm, ich meine, GB und FR hätten vor USA genehmigt.
Aber sei's drum.

"Damit steigt das Risiko für ganz Europa extrem."

Das ist schlicht falsch.
Die Sabotageaktionen der Russen sind längst in Europa angekommen.
Und wie weit könnten sie überhaupt noch eskalieren? Fangen sie einen offenen Krieg mit einem EU-Staat an, befinden sie sich in einem definitiv nicht mehr gewinnbaren Krieg mit der NATO, und das selbst dann, wenn sich die USA soweit raushalten würden, wie sie können (womit die USA aus der NATO de facto raus wäre, niemand würde sich jemals wieder auf Hilfszusagen aus den USA verlassen).

"Deutschland könnte das neue Schlachtfeld werden."

Das ist sogar das exakte Gegenteil der Wahrheit.
Russland hat sämtliche Grenztruppen zu NATO-Staaten ausgedünnt. Käme es zum offensichtlich befürchteten Krieg: Polen und Finnland hätten vom ersten Tag an ein starkes militärisches Übergewicht, das neue Schlachtfeld wäre praktisch vom ersten Tag auf russischem Territorium - oder auf belarussischem, sollte Belarus nicht die Möglichkeit haben, sich aus diesem Krieg rauszuhalten.
Vielleicht gibt es ein paar Kämpfe auf polnischem oder finnischem Gebiet.
Aber nicht in Deutschland! Höchstens ein paar ziemlich wirkungslose Versuche, mit Mittelstreckenraketen Terror zu verbreiten.

"Biden hatte sich in der Vergangenheit geweigert, diesen Schritt zu gehen, um, wie er selbst betonte, einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden. Gilt das jetzt nicht mehr?"

Es war noch nie wahr.

"Da diese Raketen [Taurus] von Bundeswehrsoldaten programmiert werden müssen,"

Nein, müssen sie nicht. Das sind Schutzbehauptungen.
Nur für bestimmte Betriebsmodi ist ein Spezialgerät nötig, von dem schon die Bundeswehr viel zuwenige hat und das womöglich auch noch gar nicht einsatzreif ist.

"käme die Lieferung des Taurus fast einer Kriegserklärung Deutschlands an die Atommacht Russland gleich."

Etwas, das "fast" einer Kriegserklärung gleichkommt, ist sowas wie "fast schwanger".

"Sie würde mit hoher Wahrscheinlichkeit eine militärische Antwort Russlands nach sich ziehen."

Kaum. Russland wirft alles, was es hat, in den Krieg mit der Ukraine, es hat gar nicht die Ressourcen, um auch Deutschland zu bedrohen.
Es wird sicherlich ein paar symbolische Antworten geben, aber nichts mit echter Substanz.
Selbst dieser sagenhafte Oreschnik ist am Boden gar nicht explodiert.
Man lasse sich doch nicht von russischer Wunderwaffenrhetorik ins Bockshorn jagen...

"Wir befinden uns in der vielleicht gefährlichsten Phase dieses Krieges."

Ganz im Gegenteil.
Russland fühlt sich auf der Siegerstraße und hat gar keinen Grund für Eskalationen.
Selbst der Taurus ist kein Gamechanger, dafür sind die Stückzahlen viel zu klein.

"Unsere oberste Pflicht sollte sein, eine Katastrophe für unser Land und alle Menschen in Europa zu vermeiden."

Ja, da könnte man jetzt diskutieren, was die schlimmere Katastrophe für Deutschland und Europa wäre.
Es gibt da drei Szenarien:

1. Man überlässt den Russen die Ukraine. (Das waren überhaupt die einzigen Verhandlungsangebote, die die Russen bisher gemacht haben. Sie sind alle auf eine vollständige Unterwerfung der Ukraine hinausgelaufen, entweder sofort oder wenige Monate später.)
Russland hätte dann mehr Einwohner, mehr Bodenschätze, wieder Zugang zum Weltmarkt und könnte wieder aufrüsten. Es würde weiterhin die EU-Staaten bedrohen, und die dortigen Regierungsmitglieder wissen dann: Wenn man nur konsequent genug Krieg gegen einen westlichen Staat führt, bricht deren Verteidigungswille über kurz oder lang zusammen. Als nächstes wären dann Rumänien und/oder die baltischen Staaten "dran".
Das wäre eine aufgeschobene, aber keinesfalls aufgehobene Katastrophe. Man könnte dann höchstens hoffen, dass Russland mit inneren Problemen beschäftigt ist, um außenpolitisch noch was anzuzetteln, aber gerade innere Probleme sind ja immer wieder durch Ablenkung mit einem netten kleinen Krieg gegen äußere Feinde übertüncht worden, selbst diese Hoffnung ist also ein immenses Risiko.

2. Der Konflikt wird eingefroren. (Das ist das, was Kellogg will, übrigens.)
Auch hier gilt: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Wurde von russischen Regierungsmitgliedern übrigens genau so kommuniziert.
Läuft also auch wieder auf Krieg hinaus.
Aber mit einem Russland, das seine Waffenlager wieder aufgefüllt hat. Und einfach abgewartet hat, bis ein US-Präsident an der Macht ist, der die Ukraine nicht unterstützen will.

3. Die Westmächte eskalieren konventionell, Russland verliert alles eroberte Gebiet plus Pufferzonen (seit Kursk wissen wir, dass Pufferzonen für Russland keine echte Rote Linie sind). Womöglich erklären die EU-Staaten Russland sogar den Krieg; völkerrechtlich wäre das gedeckt, es wäre eine reine Willensentscheidung.
Russland verliert den konventionellen Krieg, kommt aber nicht an die Schwelle eines Atomwaffeneinsatzes heran - der Staat ist ja als solcher nicht bedroht, sobald Russland in einen Frieden einwilligt, erhält es ja sogar seine völkerrechtlich anerkannten Grenzen zurück.
Nach so einer demütigenden Niederlage besteht eine Chance, dass Russland seine Großmachtträume begräbt, und DANN ist überhaupt erst dauerhafter Frieden in Osteuropa möglich.

"Wir appellieren an alle politischen Akteure: Vergessen wir unsere Differenzen und handeln gemeinsam, um das Schlimmste zu verhindern!"

Ach, erzählt das doch bitte Fico und Orban.
Die Uneinigkeit herrscht zwischen denen und den EU-Mitgliedern; die Differenzen innerhalb Deutschlands sind doch nur in der Frage, ob man sich auch öffentlichkeitswirksam gegen Russland stellt, unterhalb von Taurus liefert Deutschland eh alles, was es kann, da sind sich Scholz und Merz doch einig.

"Es ist höchste Zeit, dass sich die deutsche Politik mit Nachdruck für eine Deeskalation und einen sofortigen Waffenstillstand mit anschließenden Friedensverhandlungen einsetzt."

Ja, das müsste Deutschland halt mit Russland ausmachen.
Und Russland sagt Njet.

"So, wie es zum Beispiel der unter anderem von der Schweiz unterstützte Friedensplan Brasiliens und Chinas vorsieht."

Nur so halb.
Die Schweiz kritisierte bei dieser "Unterstützung", dass im Friedensplan nicht die UNO-Charta als Grundlage erwähnt wurde.
(Die Schweiz versucht sowieso, sich möglichst rauszuhalten. Zu viele russische Oligarchen haben Geld in der Schweiz, die ist nicht neutral.)

"Den Ukraine-Krieg kann und wird keine Seite gewinnen."

Oh doch.
Russland gewinnt, wenn der Westen die Unterstützung einstellt.
Die Ukraine gewinnt, wenn der Westen die Unterstützung weiterführt, bis die russische Wirtschaft zusammenbricht.

"Noch nie seit dem Ende des 2. Weltkriegs war die Gefahr eines Nuklearkriegs in Europa so groß wie jetzt."

Diese Gefahr besteht überhaupt nicht.
Der Atomwaffensperrvertrag ist ja ein Vertrag zwischen Atomwaffenstaaten und atomwaffenfreien Staaten. Das Versprechen ist: Keine Atommacht wird jemals eine Nichtatommacht mit Atomwaffen angreifen, deshalb müsst ihr alle auch keine Atomwaffen anschaffen.
Wenn Russland in einem klaren Angriffskrieg Atomwaffen einsetzt, nur weil der Krieg schlecht läuft, ist der Atomwaffensperrvertrag wertlos geworden, die Staaten würden reihenweise austreten und Atomwaffen beschaffen - und Russland würde nicht mal als Atommacht mehr Ernst genommen.

Fazit: Es ist fast exakt die gleiche Mischung aus politischer Naivität und Fehleinschätzungen wie schon in den vorherigen Aufrufen von Alice Schwarzer.

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