Zunächst erst einmal Dank an Herrn Boës, dass er mit seinem Artikel die Möglichkeit einer Diskussion zu einem m.E. sehr wichtigen Thema eröffnet.
Den Artikel selber empfinde ich als - naja, nicht so ganz gelungen. Der erste Part über Gorbatschow ist mir zu naiv, der Part der sich mit den Friedmanns, Wolfowitz, Brzezinskis dieser Welt auseinandersetzt wiederholt die ewig gleichen, auch hier bereits 1000 mal vorgebrachten Zitate von vor 15 / 20 Jahren. Die eigentliche politische Analyse kommt zu kurz und verliert sich im Klein- Klein, ohne den tatsächlich vorhandenen geopolitischen Rivalen der USA beim Namen zu benennen. Und im Schlusssatz kommt unser dicker, naiver Außenminister zu Wort.
Netter Rundumschlag!
Zum ersten Naivling, dem von vor 30 Jahren:
"...Gorbatschow hatte wohl erkannt, dass sein System der Einparteiendiktatur dem Westen hoffnungslos unterlegen war und leitete mit Perestroika und Glasnost eine radikale Umwandlung des russischen politischen Systems ein, die bis heute noch nachwirkt..."
Als KPdSU- Vorsitzender hat Gorbatschow zunächst erst einmal versucht, ein strauchelndes Riesenreich durch Reformen wieder auf Kurs zu bringen. Sein Problem: Als gelernter Sowjetbürger war es für ihn selber unvorstellbar, dass sich die Masse der Letten, Russen, Usbeken, Kasachen, Georgier, Esten auch nach Jahrzehnten der Indoktrination immer noch als Letten, Russen, Usbeken, Kasachen, Georgier, Esten sahen. Wäre es anders gewesen, hätte er auf dem Schirm haben können, dass die Politik der Öffnung (Glasnost) ohne erfolgreiche Wirtschaftsreformen (Perestroika) im Zusammenbruch des Riesenreichs hätte münden können. Dann hätte er mit Sicherheit anders gehandelt. Die Sowjetführung, die 1990 am Verhandlungstisch der 2 + 4 Gespräche saß, war bereits kaum noch Herr im eigenen Hause. Entsprechend ist die Verhandlungsposition und die vermeintliche Blauäugigkeit der damaligen Sowjetführung zu sehen.
Was die Friedmanns, Wolfowitz, Brzezinskis dieser Welt angeht bzw. die heutige geopolitische Situation angeht:
Unser erstes Ziel ist es, das Wiederauftauchen eines neuen Rivalen entweder auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion oder anderswo zu verhindern
Mich stört ein wenig, dass hier die immer gleichen 15 bis 20 Jahre alten Zitate hier angeführt werden. Viel interessanter wäre es doch, wie besagte Herren die heutige Situation einschätzen. Ich sehe in Russland nicht den angesprochenen neuen Rivalen sondern einen geopolitischen Kegel der fallen muss, um China, den eigentlichen Rivalen vollständig und politisch militärisch und letztendlich auch wirtschaftlich einkreisen und strangulieren zu können. Das ist das Great Game - und nicht der Nahe Osten.
Chinas BIP ist zwar noch geringer, seine Industrieproduktion übersteigt aber bereits die der USA. Seit Bush Jun. versucht die USA nun China bereits geopolitisch einzukreisen und hat dabei einige Erfolge erzielt. Ohne Russland bleibt das Puzzle aber unvollständig und das Projekt "Regime Change in Moskau" kommt nun schon seit 4 Jahren nicht voran.
Vor allem fehlt mir in diesem Artikel ein kritischer Blick auf die Situation im Inneren der USA und ihrer Verbündeten. Vor 30 Jahren sind Frachtschiffe mit Autos und Elektronik von den USA nach China gefahren und mit Rohstoffen zurückgekehrt, heute ist es umgekehrt. Der breite Verlust ganzer Industriezweige hat eine Schneise der Deindustrialisierung durch die USA geschlagen und eine Menge Verlierer zurückgelassen. Egal ob jetzt die USA oder die großen europäischen Länder, sie alle sind in politischer Hinsicht tief gespalten. Die transatlantischen Eliten, ihre Marionetten, Helfer und Profiteure auf der einen Seite, die Verlierer der aktuellen Entwicklungen auf der anderen Seite. Je länger die aktuelle geopolitische Hängepartei anhält desto tiefer werden die Gräben, desto größer die Gefahr, dass zuerst dieser Wertewesten und nicht Putins Russland (geschweige denn China) kollabiert.
Insofern: Ja unsere Eliten hier in Europa wären gut beraten die Kooperation mit dem Putin- Russland zu suchen statt sich zum Handlanger eines geopolitischen Spielchens degradieren zu lassen, bei dem nichts für den alten Kontinent zu gewinnen ist. Schon mal gut, dass zumindest ein SPD-Politiker das erkannt hat. Nur leider ist Gabriel ein Auslaufmodell...