Ansicht umschalten
Avatar von archenoe
  • archenoe

mehr als 1000 Beiträge seit 05.02.2004

Re: Die verlorene Generation

Mathematiker schrieb am 20.05.2021 10:15:

Bei dem ganzen Geschwafel kann man sich ja nur die Augen reiben.

Hey Leute, es geht um die Schule! und die Kinderverwahrung! am Nachmittag.
Das soll jetzt plötzlich einmal etwas tolles und so unheimlich förderndes für die kindliche Entwicklung sein? Welche Kräuter werden da eigentlich so geraucht?
Der Hofgang ist für den Knastologen auch etwas unheimlich wichtiges.
Mir ist noch niemand untergekommen, der diese ganzen tollen Sachen, welche diese Experten dort hineindichten, für sich unterschrieben hätte.

In meiner Kindheit haben die Kinder die Schule auch lieber von außen, als von innen betrachtet. (Auch wenn durchaus Mitschüler zu den Freunden gehörten.)
Daran hat sich auch heute nichts geändert.
Und die Kinderverwahrung, ähm Nachmittagsbetreuung? An dem öden Ort den ganzen Tag abhängen? Keinen privaten Rückzugsraum. Keine Möglichkeit wirklich das zu machen, was Spaß macht.
Meine Kinder hatten darauf keinen Bock und bekamen dann auch die neidvollen Blicke der Abgeschobenen, die dort hocken mußten.

Vernachlässigung und Triage behört bei den Abgeschobenen doch zum Alltag.

Nur einmal zur Erinnerung:
Tagesmutter: bis 5 Kinder. (Der große Unterschied zur alten Großfamilie: Dort waren die Kinder unerschiedlich alt und die größeren halfen der Mutter bei der Betreuung.)
Schule: 20-30 Kinder pro Klasse. (Durchschnittswerte.)
Nachmittagsbetreuung: 1:20 (Vollzeit-Äquivalent, Nach AWO-NRW)
Ab wann?
Na ja, da gibt es auch praktisch keine Untergrenze.
Ein mir bekannter Fall: Die Eltern (beide Jura-Studenten) karrten ihr Kind, ganz biodynamisch mit dem Lastenfahrrad als erste zur Tagesmutter und holten es dann auch als letzte wieder ab.

Um das Kind einmal beim Namen zu nennen:
Bei diesen Betreuungsschlüsseln arbeitet das Betreuungspersonal immer mit einer "Triage". D.h. die Problemkinder nehmen fast die gesamte Ausmerksamkeit in Anspruch, dann bleibt noch etwas Zeit für die Lieblinge und der Rest fällt hinten runter.
Wie bei den Küken im Vogelnest. Wer da nicht drängelt und schreit, der fällt hinten runter.

Diese Kinder lernen hauptsächlich nur zu funktionieren.
Die eigenen Ansprüche, Sorgen und Nöte zurückzustellen, weil die ja sowieso niemand
hören möchte. Erst recht nicht die Alten, die am Abend auch fix und fertig sind, den Haushalt noch stemmen müssen und sich bei ihrer Arbeit auch nicht mit solchen Sachen belasten wollen.

Die Covid-19 Pandemie hatte dann den Effekt, als wenn man Käfighühner in die Freilandhaltung verfrachtet. Einen Haufen Stress für solche Kinder und Eltern in der Umstellungsphase. Manche Eltern werden sich auch gewundert haben, wie schlecht ihre Kinder unterwegs sind.
Aber den Kindern ist auch bewusst, dass nach der Freilandhaltung es wieder zurück in den Käfig gehen wird. Das macht die Sache auch nicht besser.

Aber es wird immer heftiger für die Prekarisierung der Kindheit getrommelt.
Klar, da geben sich Kapitalisten und Sozialisten nichts: Mit der Massenkinderhaltung die Arbeitskraft der Mütter und Eltern noch besser ausbeuten können.

Wenn auch überspitzt und einseitig (ist vielleicht nötig, um hier im Forum überhaupt mal für andere Gedanken Aufmerksamkeit zu erregen), aber doch teils treffend (wenn du Sozialisten in Anführungszeichen gesetzt hättest, wäre auch der Schluss treffend).

Der unbändige Wunsch nach Rückkehr zur kapitalistischen Normalität ist bei vielen der Sehnsucht nach trainierter und deshalb gewohnter Ausbeutung, Fremdkontrolle und Käfighaltung im Arbeitsprozess einerseits, sowie kompensatorischem Konsum in der sogenannten Freizeit andererseits geschuldet, während ihre Kinder tagsüber ebenfalls in Käfighaltung versorgt sind. Nun aber stellen sie fest, dass der "Kinderkäfig" von Kindergarten und Schule in die eigene Wohnung verlagert worden ist und sie selbst zu den Wärter*innen ihres Nachwuchses mutieren mussten. Dabei wird überdeutlich, wie sehr Familie eben auch Käfig ist und schon immer war, nun aber sogar der Freigang fast völlig ausfallen muss.

Horror! Die Blagen haben Wünsche und stellen Ansprüche und das in unmittelbarer Konfrontation mit den Wärter*innen, zumal die Entlastung der Kinder durch Treffen mit anderen Kindern und die eigene Entlastung durch kompensatorischen Konsum stark eingeschränkt sind und einige Wärter*innen obendrein die Arbeit aus dem üblichen Unternehmenskäfig nun aus dem Familienkäfig heraus erledigen müssen (sogenanntes Home Office).

Die wohl trainierte psychische Störung im kapitalistischen Rattenrennen der Eltern und die wohl trainierte psychische Störung der Kinder in der Schul- und Kitakäfigen fällt weniger auf, sie ist kapitalistische Normalität. Die ungewöhnliche psychische Störung durch erzwungenes Zusammenleben im Familienkäfig bricht offen zutage, zumal die Hoffnung auf die Wiederkehr der normalen Krankheit, in der sich alle, auch die Kinder, eingerichtet haben, die Unerträglichkeit der aktuellen Lebensituation massiv verschärft.

Deine Gegenüberstellung von gewohnter Käfighaltung in Kitas und Schulen und ungewohnter Freilandhaltung in der Familie halte ich für schief. Familien sind ebenfalls Käfige, was du übrigens auch selbst ahnst, wenn du darauf hinweist, dass die durch den Arbeitsprozess erschöpften "Alten" am "Feierabend" (= entlarvender Begriff) erst recht kein Ohr für Sorgen und Nöte der Kinder haben. Wie sollen dann Eltern (Wärter*innen) ausgerechnet ein Ohr dafür haben, wenn sie die Kids den ganzen Tag über um sich haben? Das ist für sehr viele völlig ungewohnt - übrigens auch für die teilzeitbeschäftigten Mütter und die nicht erwerbstätigen Mütter und Väter, die ihr Kids sonst ja auch nicht den ganzen Tag "um die Ohren" hatten, weil sei eben in Kita oder Schule gingen.

Meine Darstellung sei auch überspitzt? Ja, klar, weil wiederum nicht wenige im kapitalistischen Normalvollzug sich mächtig bemühen, es v.a. für die Kinder erträglich zu machen (Erzieher*innen, Lehrer*innen, aber eben auch viele Eltern) und jetzt in der besonderen Zeit das auch weiterhin versuchen. Nur die Bedingungen sind in vielen Einrichtungen (Schule, Kita), wie du richtig beschreibst, extrem ungünstig, auch in Nicht-Pandemiezeiten. Deshalb können die engagierten Arbeitskräfte in den "Käfigen" nur gegen (!) die Bedingungen noch etwas für die Kids herausholen (und reiben sich dabei auf). Warum aber die Bedingungen für Kids in den Familienwohnungen mit Mutter und/oder Vater und/oder Oma, Opa, Verwandten, Freunden etc. als "Wärter*innen" besser sein sollen, erschließt sich mir nicht. Sie sind
a) wegen der grundsätzlich fragwürdigen Konstruktion der Kleinfamilie
und
b) wegen Ungeübtheit, den "Familienkäfig" ganztägig zu organisieren und dabei die Bedürfnisse der Kinder nicht völlig aus dem Blick zu verlieren
mMn eher fast noch schlechter als in der außerfamilialen "Käfighaltung".

Die pandemisch falsche Sehnsucht nach kapitalistischer Normalität und damit ihre Glorifizierung (aktuell besonders beliebt durch falsche Gleichsetzung mit Freiheit) kann nicht durch falsche Glorifizierung der Familie bekämpft werden. Die Kleinfamilie ist selbst ein wesentlicher Baustein kapitalistischer Normalität wie auch die personell und materiell schlecht ausgestatteten Kitas und Schulen.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (20.05.2021 12:56).

Bewerten
- +
Ansicht umschalten