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mehr als 1000 Beiträge seit 01.12.2023

Re: Halt du sie dumm, ich halt sie arm

Man stelle sich mal folgende Situation vor.

Es herrscht ein blutiger Kampf. Links und rechts von einer Straße stehen sich feindliche Truppen gegenüber. Auf einmal wird eine 15-Minütige Kampfpause angeordnet. Die Waffen schweigen tatsächlich. Drei, vier, fünf Minuten vergehen. Dann trauen sich die Sanitäter raus und bergen die Verwundeten. Andere Soldaten bergen die Gefallenen.

Die Soldaten beider Seiten stehen sich gegenüber. Sie sprechen eine gemeinsame Sprache, vielleicht nur im Dialekt verschieden. Und einer beginnt das Gespräch mit seinem Gegenüber: "Es ist schon verrückt. Wir beide sind nur wegen der Pflicht hier, ich für mein Land, du für deins. Und in fünf Minuten müssen wir wieder aufeinander schießen. Ist das nicht wahnsinnig?" Darauf der andere: "Haben wir denn eine Wahl? Wenn du sagst, du schießt nicht auf mich, dann schieße ich nicht auf dich. Aber irgendwer wird auf uns schießen. Und wir müssen zurückschießen." Ein kurzer Moment der Stille, denn beide denken nach.
Der erste Soldat meint, eine Antwort gefunden zu haben: "Nein, wir haben keine Wahl. Wenn wir nicht aufeinander schießen wollen, werden unsere eigenen Leute uns erschießen. So oder so, wir sind am Ende des Tages tot, entweder weil wir uns gegenseitig erschießen oder weil wir erschossen werden. Es ist und bleibt Wahnsinn."
Wieder schweigen beide. Die letzten Minuten der Waffenruhe sind angebrochen. Der zweite Soldat hat seinen Schluss gefunden: "Hätten wir die Wahl gehabt, wären wir beide vielleicht nicht hier. Dann würden wir nicht aufeinander schießen. Hätten wir alle die Wahl gehabt, hätte es diesen Krieg vielleicht nicht gegeben."
Die Worte lassen nachdenklich werden. Zum Schluss gibt der erste Soldat zu: "die, die uns den Krieg aufgezwungen haben, kämpfen nicht hier. Für die ist das alles Statistik und Abendnachrichten. Wären die Rollen vertauscht und die müssten in den Kriegen kämpfen, die zu denen sie aufrufen, die Welt wäre ein friedlicherer Ort."
Danach entfernen sich die beiden Soldaten wieder. Jeder geht auf seine Seite der Straße und geht in Deckung hinter einer dicken Mauer.

Die Feuerpause ist vorrüber. Einzelne Schuss fallen. Doch wirklich entflammen wollen sich die Kämpfe erst einmal nicht mehr. Und so wird es auch den Rest des Tages bleiben.

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Ich bin ehem. Zivildienstleistender und habe mich bewusst gegen den Dienst an der Waffe entschieden. Immer, wenn ich diese Entscheidung revue passieren lasse, fallen mir immer neue Gründe ein, warum das damals die richtige Entscheidung war, aber kein einziger, warum ich hätte mich überzeugen lassen sollen.

Mir fallen dafür aber durchaus Aufgaben ein, wie man sich für sein Land seine Pflicht auch ohne Waffe erfüllen kann. Mir fehlt dafür die nötige akademische Ausbildung, aber die höchste Pflichterfüllung ist es doch, wenn man die Interessen des eigenen Landes würdevoll im Ausland vertreten kann. Ein Diplomat dient seinem Land genauso wie ein Soldat, muss aber nicht schießen. So richtig meine Entscheidung war, nicht den Wehrdienst zu machen, so falsch ist meine Entscheidung gewesen, nicht das Abitur zu machen und zu studieren.
Allerdings muss ich auch sagen, dass ich vor über 20 Jahren gar nicht die nötige Selbstreflektion hätte aufbieten können, um zu erkennen, dass ein Diplomatenlebenslauf heute wichtiger wäre denn alles andere.

Und wäre ich heute Diplomat, ich müsste mich schämen für dieses Land.

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