In Mario Vargas Llosas nach wie vor lesenswerten Roman "La Guerra del Fin del Mundo/Der Krieg am Ende der Welt" gibt es die Figur des Periodista Miope. Er ist ein revolutionsseeliger Europäer, der die Ereignisse als revolutionären Prozess wahrnimmt und sie konsequent durch diese verzerrte Brille interpretiert. Die Figur ist eine grotesk komischen Nebenfigur. Er liegt offensichtlich falsch. Eigentlich geht es in dem Roman um die Unfähigkeit der Kommunikation zwischen verschiedenen Gruppen im Brasilien des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Aus diesem Blickwinkel lese ich vieles, was in Deutschland so von links über Lateinamerika geschrieben wird.
Im Chile des Oktoberaufstands wird den Chilenen ein Weltrekord der plötzlichen Bewußtseinsveränderung konzediert. Eine Art kollektive mythisch-religiöser Erweckungserfahrung. Angesichts der Bedeutsamkeit dieses Prozesses werden die vielen komplexen Details und Widersprüchlichkeiten der Ereignisse nur sehr ungenügend wahrgenommen.
Es wird nun möglicherweise eine neue Verfassung ausgearbeitet. Beliebt unter linken Schreibern ist das Wort Carta Magna. Das hört sich groß und wichtig an. Magna wird in der Realität bedeuten, dass da eben kein radikal neuer Kurs vorgegeben wird. Viel mehr wird es darum gehen, einen Text zu verfassen, der für einen möglichst großen Anteil an Chilenen akzeptabel ist. Die politischen Richtungswechsel erfolgt über die Gesetzgebung, nicht über die Verfassung.
Natürlich behinderte die Verfassung von 1980 Änderungen am status quo, aber das wird auch oft überschätzt, auch weil die Verfassung Jaime Guzmans in der Demokratie öfters editiert wurde. Die im politischen Prozess sehr verwässerte Steuerreform Bachelets scheiterte vor ca 6 Jahren am politischen Prozess und nicht an der Verfassung von 1980.
Der Oktoberaufstand war aus meiner aktuellen Perspektive in seiner Wirkung mittelfristig mehr Erdbeben als Tsunami. Die Tsunami-Welle verschlingt eine bestehende Struktur, zieht sie ins Meer und bietet Raum für eine komplette Neustrukturierung der Küste. Ein Erdbeben lässt Spalten entstehen, leitet Flüsse um, zerstört Brücken und Strassen und gibt auf mittlere Sicht Chancen für eine effektive Neustrukturierung der Verkehrsinfrastruktur. Gerade innerhalb der Rechten und der Linken (Frente Amplio) gibt es eine Menge an Zerwürfnissen und Richtungsstreit, aber deshalb gleichzeitig auch Perspektiven für neue Koalitionen im Prozess der politischen Willensbildung.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (30.12.2019 13:53).