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  • derJ

mehr als 1000 Beiträge seit 12.05.2005

Herrschaft ist das Unvermögen zur Selbstbeherrschung

Innerhalb seiner Artverwandten hält sich eine spezielle Spezies der
Trockennasenaffen für etwas ganz Besonderes. Sie ist im Bezug auf
ihre (Selbst-)Täuschungskunst, ihr Verhalten selbst als distinguiert
(also verschieden, "kulturell höherstehend" von ihren Artverwandten)
zu betrachten, tatsächlich außergewöhnlich. Gruppen- und
Hierarchiebildung, kollaborative Strategien zur Nahrungsorganisation
und Habitatsicherung, Paarungsverhalten, ordnungsstiftende Rituale -
Struktur und Entwicklungsmuster weichen auf der Verhaltensebene
bisher eher in Details von behaarten Affen ab. 

Allerdings reagieren vor allem die Männchen im Reich der Haplorrhini
äußerst aggressiv, wenn ihre Distinktiosmerkmal infrage gestellt
werden. Besonders in der nördlichen Hemisphäre geraten ganze Horden
in Aufruhr, wenn ihr Gruppenmerkmal "Intelligenz" - eine Bezeichnung
für die etwas komplexere Kommunikationsfähigkeit der Spezies - von
Vertretern anderer Arten angezweifelt wird. Wie alle Hominini besitzt
auch der Homo sapiens Abwehrstrategien, die er im Angriffsfall
einsetzt: Bei Konfliktensituationen werfen z.B. andere Primaten mit
ihrem Kot nach dem Gegner. Er dagegen nutzt eine differenziertere, ja
distinguierte Verteidigungsstrategie: Er verwendet sog. Fäkalsprache,
mit der er den Kontrahenten überzieht und so den Effekt einer
Beleidigung erzielt. Wie die Tierforschung wieder einmal zeigen kann,
unterscheiden sich im interspeziellen Vergleich der höheren
terrestrischen Lebenwesen eher die Ausdrucksformen der sozialen
Interaktion als ihre Inhalte. Die einzige Fähigkeit, die den Mensch
zum Menschen machen würde, ihn - gemessen an seinen
selbsterschaffenen Maßstäben - vom Tier unterscheiden würde, wäre die
Selbstbeherrschung. Denn seine tägliche Gewaltausübung als human zu
deuten, ist zwar auch eine menschliche Fähigkeit, aber der
Unterschied zu tierischem Handeln bleibt lediglich die Deutung.

Oder ist am Menschsein mehr dran? Gibt es Menschwerdung? Warum gibt
es den Begriff Humanismus? Waren Menschen schon vor dem Internet
schlau oder ist die Geistesgeschichte eine Erfindung? Warum werden
die ganzen Buchstaben jetzt elektronisch gespeichert? Gilt es durch
Reflektion, die animalischen Instinkte von der menschlichen
Distinktion zu trennen? War da nicht was? Vernunft, Verstand, die
Fähigkeit zu urteilen und zu planen? 

Zu konkurrieren, wo Kooperation so eindeutig Fortschritt bedeutet,
ist ein Armutszeugnis menschlicher Intelligenz - dessen sich nicht
schämen zu müssen, ist sicher ein Grund für die Popularität eines
sehr verkürzten Menschenbilds: Kirchen wie Massenmedien, Schulen und
Universitäten besaßen Jahrhunderte die Deutungshoheit, also auch die
Macht, das Wesen, die Natur des Menschen selbst zu deuten. Wird noch
immer ein falsches Bild des Menschen gepredigt? Dass er kraft seines
Verstandes rational und autark, also frei handelnd und allein selbst
verantwortlich für sein Tun sei?

Das verleugnet doch die, sicherlich schwer messbaren, dennoch
existenten "Verbindungsinstanzen" unter den Menschen, die sich in
überzeitlichen und überindividuellen Vorstellungen und Begriffen wie
"Geist", "Seele" oder "Bewusstsein" spiegeln. Denn der nur
vermeintlich aufgeklärte (!) Mensch hat oft ein völlig falsches Bild
von sich. Er soll sich, quasi mental künstlich verknappt lediglich
als individuelle, unverbundene, komplexe Biomaschine begreifen, die
nur aus einem Körper und einer biochemisch operierenden
Zentralrecheneinheit besteht. Und deren einziger Sinn es ist, sich
mittels rationaler Denkprozesse weitgehend autonom selbst zu
optimieren, um in der Anpassung an vorgegebene Zwangssysteme
Bestätigung zu erfahren.. Der allgegenwärtige Imperativ des
rationalistischen Hyperindividualismus - als vorgestanzte
Denkschablone für Humanressourcen - reduziert den Mensch auf seinen
Körper, auf Materie und Messbares. Schlichtweg das, was kontrolliert,
beherrscht, verwaltet, verwertet, besessen werden kann..

Seine immanenten Verbindungen, die Verbundenheit und Eingebundenheit
in schlicht noch nicht ausreichend erforschte Systeme der emotionalen
und geistigen Wechselwirkung nimmt er nicht wahr - denn dieses
Selbst-Bewusstsein gäbe ihm weit mehr Macht, Manipulationen des
Verhaltens zu durchschauen.

In der Vorstellung (!) wird JEDE "metaphysische", emotionale oder
spirituelle Verbindung zu den Mitmenschen gekappt. Als würde eine
langfristige, perfide Strategie der Entsolidarisierung ihre Wirkung
entfalten: Ein rücksichtsloser, berechnender Egomane hat vermeintlich
keinen Schaden, keine Gegengewalt zu befürchten, wenn er Anderen
schadet. Denn er ist ja vorgeblich in kein wechselwirkendes
Gesamtsystem, in einen unweigerlichen Zusammenhang eingebunden.. Ein
brutales, tödliches Konkurrenzsystem - eben wie im Tierreich - als
alternativlos zu deuten, ist vielleicht nur der Beweis, dass die Welt
von Herrschern beherrscht wird, die nie erkannt haben, dass
Herrschaft auf Angst gebaut ist, Angst keinen Raum für Liebe lässt
und dass ohne Liebe kein Leben wächst. 


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