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  • microB

mehr als 1000 Beiträge seit 14.04.2000

gut gedacht, schlecht geschrieben

im Artikel sind jede Menge interessante Ansätze und Gedanken, über
die man wunderbar diskutieren könnte - wenn man sie hinter dem
manierierten Schreibstil nur richtig fassen könnte.

Bei einigen Allgemeinplätzen betreibt er Spiegelfechterei:
Schon Darwin hat aus dem Vergleich der berühmten Darwin-Finken auf
Galapagos geschlossen, dass das Besiedeln eines neuen Lebensraumes zu
einer "kreativen Explosion" führt: Zunächst schafft das Fehlen von
Konkurrenz den Freiraum, eine Vielzahl von Varianten zu bilden, die
sich dann, unter dem Druck sich verknappender Ressourcen,
spezialisieren und in unterschiedliche Arten aufspalten. Zum
Evolutionskonzept gehört beides: Phasen, in denen sich Veränderungen
entwickeln und ausbreiten können und solche, in denen diese
Varietäten der Selektion ausgesetzt sind. 
Das allein geht schon deutlich über den apologetischen Ansatz von
Malthus (und Mills) hinaus.
Ein Evolutionsbiologe, der die Bedeutung der Isolate besonders betont
hat, war Stephen Jay Gould, der zudem auch den Zufall als wichtiges
Evolutionsprinzip herausstrich: Wäre der Chicxulub-Asteroid nicht
aufgeschlagen, würde sich heute möglicherweise eine Echse Gedanken
über die Probleme des Kapitalismus machen.

Und dann die Bakterien ....
Die Vorstellung, dass Bakterien ein genetisches Kontinuum bilden, in
das nur unsere Art Proben zu sammeln und zu klassifizieren so etwas
wie Arten hineininterpretiert, hat inzwischen auch schon ein paar
Jahrzehnte auf dem Buckel. Wirklich bestätigt hat sie sich nicht.
Wenn man ökologisch vergleichbare Lebensräume untersucht, findet man
vergleichbare Bakterienpopulationen. Die Isolate können sich in
Details unterscheiden, lassen sich aber ohne Verrenkungen einer Art
zuordnen. 
Darüberhinaus gibt es aber bei Bakterien noch etwas anderes, das der
Autor in seine Gedanken hätte einfließen lassen können: In manchen
Biotopen (z.B. Kläranlagen mit stark schwankender Zusammensetzung des
Zuflusses) beobachtet man, dass die Zusammensetzung der
Bakterienpopulation hochvariabel ist, dass es aber eine Konstanz der
genetischen Information gibt, die den variierenden Arten in dieser
Umgebung das Überleben sichert. Ist das jetzt eine Art Kooperation
der Arten, ist es eine Bestätigung von Dawkins' "Egoistischem Gen"
oder ist es eine Analogie zur eukaryontischen Sexualität?

Dabei würden sich die Bakterien gerade in Beziehung auf den
Neocon-Kapitalismus zu anthropomorher Ausdeutung eigenen: Monaden mit
mal mehr, mal weniger individuellen Eigenschaften fallen ohne
Gedanken ans Morgen über jede verfügbare Ressource her und
konsumieren sie, je nach Substrat in Kooperation oder erbarmungsloser
Konkurrenz. Die ständigen Wechsel aus Fülle und extremem Mangel
schafft auf der einen Seite eine unüberschaubare Vielfalt von
Varianten und selektiert im nächsten Moment gnadenlos aus, was den
Widrigkeiten nicht trotzt. 
Dass sich Wirtschaftskleriker dieser Bilder nicht bedienen, mag am
egalitären Wesen der Bakterienwelt liegen: Niemand kann aus dieser,
in extremster Weise auf Effizienz getrimmten Welt eine Rechtfertigung
für individuellen Reichtum ableiten.
Und darum dreht sich doch alles - oder?

microB

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