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Avatar von wilma_gucken
  • wilma_gucken

428 Beiträge seit 09.11.2020

Kein Meisterwerk

Es ist der Artikel eines Journalisten, der, so mein Eindruck, gerne mit feiner, feuilletonistischer Klinge mittun möchte (New Yorker, Hannah Arendt, Masha Gessen - bin auch ich berufen...), aber dessen Bordmittel und rhetorische Kniffe dann doch etwas dürftig ausfallen. Ein paar Kostproben:

Natürlich hat sie nichts gleichgesetzt. Dafür ist Gessen viel zu schlau.

So, so sie hat also nicht gleichgesetzt, weil sie eine Gleichsetzung für falsch hält, sondern aus taktischen Erwägungen? Ich unterstelle eine Unterstellung....

Sie hat allerdings die Gleichsetzung nahegelegt, indem sie sagt, sie müsse an dies und jenes "denken", wenn sie dies und jenes "sehe"

Mmmh, auch nicht sehr überzeugend. Wenn man dies und jenes denkt, wenn man dies und jenes sieht, dann nennt man das Assoziation und nicht Gleichsetzung. Kleines Beispiel: Wenn ich im Moment die israelische Flagge sehe, muss ich an Netanjahu denken. Ich wäre allerdings des Wahnsinns fette Beute, wenn ich Israel mit Netanjahu gleichsetzen würde....

Und dann hat sie im nächsten Satz gleich hinzufügt, in Deutschland dürfe sie das wohl nicht sagen: "Dann ging mir durch den Kopf, dass ich, wenn ich das in Deutschland öffentlich sagen würde, womöglich Ärger bekäme." Das wird man doch noch sagen dürfen oder?

Dieses nachgeäffte und hier Gessen untergejubelte „Das wird man doch noch sagen dürfen“ ist ein oft genutztes, perfides Mittel, Leute lächerlich zu machen und in die rechte Ecke zu schieben… Ich gehe mal davon aus, dass Letzteres nicht die Intention von Herrn Suchsland war. Die feine englische Art ist es trotzdem nicht.

Ganz genau sagt sie allerdings – und die Süddeutsche macht aus diesem Zitat genau die Schlagzeile des ganzen Interviews – "bislang".
Dieses kleine Wörtchen "bislang" ist das Entscheidende; denn hier stellt sie in Aussicht, dass wir kurz vor einer solchen Wiederholung stünden, dass dies quasi jeden Tag geschehen könne, und muss dann gar nicht mehr dazu sagen, was gleich mit im Raum steht, weil es zwischen den Zeilen gesagt wird: Wer nämlich diesen zweiten Holocaust verursacht.

Auch das ist ein eher unseriöses Zurechtbiegen des Autors, damit seine Thesen Fahrt aufnehmen. Die Verwendung von „bislang“ in diesem Kontext bedeutet in keinster Weise, dass „wir kurz vor einer solchen Wiederholung stünden“ bzw. dass Gessen genau dies damit ausdrücken wollte. Kurz: ebenfalls eine Unterstellung.

Aber auch hier wieder stellt sich die Frage nach dem Timing. In einem Moment, in dem der Staat Israel und seine Bevölkerung - nicht nur die Netanjahu-Regierung - mit einem beispiellosen Massaker konfrontiert sind, und einer noch existentielleren Bedrohung ausgesetzt, als ohnehin schon, ist es einfach geschmacklos, die Erinnerung an die Shoah und deren einzigartigen Charakter zu relativieren.

Wir drehen uns jetzt im (selbstgeschaffenen) Kreise. Nein, sie relativiert die „Shoah und ihren einzigartigen Charakter“ nicht und auch die Erinnerung daran nicht. Da helfen auch die starken Worte „Massaker“ und „existenzielle Bedrohung“ nichts. Sie relativiert nicht. Folglich missbraucht sie auch kein Timing.

In ihrem Essay ist 68 Mal von Israel die Rede, 37 Mal von "Holocaust". Hamas und Gaza fallen hingegen nur 14 Mal, BDS 15 Mal.

Das ist jetzt wirklich albern – und ich höre jetzt auch auf. Zum einen : Birnen und Äpfel. Zum anderen: Als wenn man Einschätzung, Bewertung durch Abzählen ermitteln könnte….

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