Re: was genau hat Gessen eigentlich geschrieben

In den letzten siebzehn Jahren war Gaza ein dicht besiedelter, verarmter, ummauerter Komplex, aus dem nur ein kleiner Teil der Bevölkerung das Recht hatte, das Land auch nur für kurze Zeit zu verlassen – mit anderen Worten: ein Ghetto. Nicht wie das jüdische Ghetto in Venedig oder ein innerstädtisches Ghetto in Amerika, sondern wie ein jüdisches Ghetto in einem von Nazi-Deutschland besetzten osteuropäischen Land. In den zwei Monaten seit dem Angriff der Hamas auf Israel haben alle Bewohner des Gazastreifens unter dem kaum unterbrochenen Angriff der israelischen Streitkräfte gelitten. Tausende sind gestorben. Im Durchschnitt wird in Gaza alle zehn Minuten ein Kind getötet. Israelische Bomben haben Krankenhäuser, Entbindungsstationen und Krankenwagen getroffen. Acht von zehn Bewohnern des Gazastreifens sind jetzt obdachlos, ziehen von einem Ort zum anderen und können sich nie in Sicherheit bringen.
Der Begriff „Freiluftgefängnis“ scheint 2010 von David Cameron, dem britischen Außenminister und damaligen Premierminister, geprägt worden zu sein. Viele Menschenrechtsorganisationen, die die Zustände in Gaza dokumentieren, haben die Beschreibung übernommen. Aber wie in den jüdischen Ghettos des besetzten Europas gibt es keine Gefängniswärter – Gaza wird nicht von den Besatzern, sondern von einer örtlichen Truppe überwacht. Vermutlich hätte der passendere Begriff „Ghetto“ Aufsehen erregt, wenn man die missliche Lage der belagerten Gaza-Bewohner mit der der ghettoisierten Juden verglichen hätte. Es hätte uns auch die Sprache gegeben, um zu beschreiben, was jetzt in Gaza passiert. Das Ghetto wird liquidiert.
Die Nazis behaupteten, Ghettos seien notwendig, um Nichtjuden vor von Juden verbreiteten Krankheiten zu schützen. Israel hat behauptet, dass die Isolierung des Gazastreifens ebenso wie die Mauer im Westjordanland erforderlich sei, um die Israelis vor Terroranschlägen der Palästinenser zu schützen. Die Behauptung der Nazis entbehrte der Realität, während die Behauptung Israels auf tatsächlichen und wiederholten Gewalttaten beruhte. Das sind wesentliche Unterschiede. Beide Behauptungen deuten jedoch darauf hin, dass eine Besatzungsmacht sich im Namen des Schutzes ihrer eigenen Bevölkerung dafür entscheiden kann, eine ganze Bevölkerung zu isolieren, zu verelenden – und nun tödlich zu gefährden.