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  • Bartulissis

446 Beiträge seit 21.03.2015

Die Struktur des Nichtwissens

Am 2. August 1914, dem Tag nach der deutschen Kriegserklärung gegen Russland, notiert Franz Kafka in Prag in seinem Tagebuch: "Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule." Das ist lediglich ein besonders prominentes Beispiel dafür, dass Ereignisse, die die Nachwelt als historische zu bewerten gelernt hat, in der Echtzeit ihres Entstehens und Auftretens nur selten als solche empfunden werden. Wenn sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dann als Teil eines Alltags, in dem noch unendlich viel mehr wahrgenommen wird und Aufmerksamkeit beansprucht, und so geschieht es, dass selbst intelligente Zeitgenossen einen Kriegsausbruch nicht bemerkenswerter finden als den Umstand, dass man am selben Tag seinen Schwimmkurs absolviert hat.

In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben Menschen Gegenwart. Historische Ereignisse zeigen ihre Bedeutung erst im Nachhinein, nämlich dann, wenn sie nachhaltige Folgen gezeitigt haben oder sich, mit einem Begriff von Arnold Gehlen, als "Konsequenzerstmaligkeiten" erwiesen haben, also als präzedenzlose Ereignisse mit Tiefenwirkung für alles, was danach kam. Damit ergibt sich ein methodisches Problem, wenn man die Frage stellt, was Menschen von solch einem Ereignis wahrgenommen bzw. gewusst haben. Erstmaligkeitsereignisse werden in der Regel gerade deshalb nicht wahrgenommen, weil sie neu sind, man also das, was geschieht, nicht mit Erfahrungen abgleichen kann. Aus diesem Grund haben viele jüdische Deutsche die Dimension des Ausgrenzungsprozesses nicht erkannt, dessen Opfer sie wurden.

Geschichte geschieht nicht punktuell, sondern sie ist ein für die begleitende Wahrnehmung langsamer Prozess, der erst durch Begriffe wie "Zivilisationsbruch" nachträglich auf ein abruptes Ereignis verdichtet wird. Die Interpretation dessen, was Menschen vom Entstehen eines Prozesses wahrgenommen haben, der sich erst sukzessive zur Katastrophe auftürmte, ist ein äußerst vertracktes Unterfangen - auch deswegen, weil wir unsere Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung mit dem Wissen darum stellen, wie die Sache ausgegangen ist. Über dieses Wissen verfügten die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen logischerweise nicht. [...]

brb.de

Nach dem nächsten Weltkrieg wird es vermutlich für Deutschland kein Nachhinein mehr geben!

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