Wann ist es eigentlich genau geschehen, dass Pazifist oder "Friedensfreund" zum beleidigenden Schimpfwort wurde? Vielleicht sollten die Friedensfeinde mal darüber nachdenken.
Der Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden Artikels ist die Unterstellung, dass Moskau den Krieg begonnen hätte, um "Grenzen zu verschieben". Das ist falsch. Moskau hat den Krieg begonnen, um die ukrainische Regierung durch Strohmänner zu ersetzen. Doch das ist fehlgeschlagen. Und um das Gesicht zu wahren, wurde dann die "Befreiung" von Teilen der Ukraine als Kriegsgrund nachgeschoben. Und damit erst das Verschieben von Grenzen.
Und nein, das hat mit der Annektion der Krim nichts zu tun. Die Krim wurde annektiert, um sie dem Zugriff des Westens zu entziehen, als die Ukraine eindeutig - insbesondere wirtschaftlich - westlich orientierte. Die Halbinsel war strategisch zu wichtig, die dortigen Bodenschätze zu wertvoll, die Landschaft touristisch zu wertvoll, als dass Russland auf diesen Herrschaftsbereich einfach hätte verzichten wollen. Und wem die Krim gehörte, war nie so eindeutig, wie es oft im Westen dargestellt wird. Als Chruschtschow die Krim der Ukraine "schenkte" war das in der Sowjetunion nur eine Verschiebung der Zuständigkeit der Verwaltung. Chruschtschow ging davon aus, dass die UDSSR ewig existieren würde. Er konnte nicht ahnen, dass dieser Verwaltungsakt einmal ernsthaft zur Frage führen könnte, wem die Krim gehört.
Nun kreisen wir die Frage ein, weshalb Moskau die Regierung in Kiev "enthaupten" wollte...
Der Zusammenbruch der Sowjetunion war ein gesellschaftlicher Zusammenbruch. Der Kommunismus wurde weggefegt und durch den Kapitalismus ersetzt. Dabei ging man keinen Umweg über die Sozialdemokratie sondern direkt in eine Endform des Kapitalismus. Eine faschistoide Variante, in der Geld gleich so viel Macht bedeuten konnte, dass diese Macht sich weder um Gesetze noch um Moral kümmern musste. Wer konnte bediente sich und die Clique der Oligarchen entstand. Gewalt ist Geld ist Macht -> noch mehr Möglichkeit zu Gewalt. Putin hat verstanden, dieses Spiel exzellent zu spielen. Er hat ein Staats- und Wirtschaftsgebilde nach dem Vorbild der Mafia aufgebaut. Nicht Gesetze oder Moral bestimmen die Gesellschaft, sondern Gewalt (und die daraus resultierende Angst) und Loyalität dem jeweiligen "Paten" - bis zu ihm selbst - gegenüber. Putin hat dieses Gesellschaftssystem perfektioniert, doch neben der Unmenschlichkeit hat es noch andere Nachteile. Wenn die Gesellschaft durch und durch korrupt ist und sich jeder an den jeweils Schwächeren bereichert, dann kommt z. B. keine brauchbare Ausrüstung "unten" bei der Armee mehr an. Alles Staatsgeld versickert in der Korruption. Die Folge ist sagenhafter Reichtum für einige Wenige, Armut für den Rest. Und eine kaputte Armee.
Aber auch dieses System ist ein System, welches die Mächtigen eben auch sehr gut an der Macht halten kann.
Und nun kommt die Ukraine. Sie wird demokratisch und wendet sich dem Westen zu. Natürlich nicht, ohne dass der Westen massiv nachgeholfen hätte, aber das tut erstmal nichts zur Sache. Nun besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass es den Menschen in der Ukraine innerhalb weniger Jahre wesentlich besser geht, als denen in Russland. Nicht nur, dass sie echte wahlen haben, ihre Chancen auf steigenden Wohlstand für Alle stehen gut. Und das wäre dann ein Gegenentwurf zum russischen, mafiösen System. Die Führungsclique in Russland - und das ist nicht Putin alleine, da gibt es auch solche Gestalten wie Kadyrow und andere Provinzfürsten und putintreue Oligarchen - müssen fürchten, dass das ukrainische Gesellschaftsbild zu einer Blaupause in ihrer Gesellschaft und ihrer Opposition wird und sie selbst von den Menschen aus ihren Machtpositionen gedrängt werden. Der Westen würde mithilfe seiner Gesellschaftsform, seiner Ideologie immer weiter Richtung Osten vorrücken, ganz ohne militärischen Einsatz. Die Menschen werden einfach nach westlichem Vorbild leben wollen. Putin hat das damals in der DDR voll miterlebt. Und das ist auch der Grund, warum das ebenfalls autokratische China lieber Putin gewinnen sehen würde als den Westen. Die chinesische Führung fürchtet selbst den Aufstand der eigenen Massen.
(Diese Angst vor der westlichen Gesellschaft bzw. deren Verlockungen ist auch der Grund, weshalb sie propagandistisch so sehr besonders über die sexuelle Schiene verächtlich gemacht wird. Lt. russischer Propaganda ist der Westen voller drogenkonsumierender, sexuell Abartiger, die Kinder vergewaltigen Da gibt es Bordelle mit Tieren und fast alle Jungs werden zu Mädchen umgebaut - und andersrum. Wohl wissend, dass diese Propaganda auch bei einem Teil unserer Bevölkerung fruchtet.)
DAS war der Auslöser des Ukraine-Krieges, zu diesem Zeitpunkt. Ein Angriff, um dieses System zu beseitigen bevor es durch Bündnisse mit dem Westen unangreifbar wird.
Und ich behaupte auch, dass dieser Angriff von Putin nicht über Jahre geplant war, sondern dass er unter Zeitdruck "aus der Hüfte geschossen" hat. Was ebenfalls die dilettantische Ausführung des ersten Angriffes erklärt.
Weiters behaupte ich auch, dass dem Westen - vornehmlich die USA - die Situation voll bewusst war. Das Geschehen und die zu erwartenden Auswirkungen können an tausenden Menschen, die in diversen Think-Tanks beschäftigt sind, nicht vorbeigehen. Aber man wollte Russland in diese Auseinandersetzung treiben, weil es einen "gedeckten" Stellvertreterkrieg erlaubt. Ein Krieg, der Russland schwächt ohne dass die NATO direkt eingreifen muss und die Gefahr eines Atomkrieges gering ist. Und ganz nebenbei die Europäer wirtschaftlich ebenfalls schwächt. Denn die Stärke der europäischen Wirtschaft begründete sich durch den Zugriff auf billige Rohstoffe. Besonders aus Russland. Die USA kann sich so wieder ein paar Jahrzehnte an die Spitze der Weltmächte setzen.
Zurück zum "Friedensfreund". Wissen denn die Friedensfeinde, wie sie diese Kuh wieder vom Eis bekommen? Wie soll denn irgendwann ein Frieden überhaupt aussehen? Denn Eines ist klar. Russland kann nicht besiegt werden. Russland ist nicht Deutschland, das vor dem Ende des WK2 in Trümmer gebombt wurde und dann von den Alliierten durchkämmt wurde um die Rädelsführer zu verhaften und abzuurteilen. Nein, Russland bleibt unangetastet und kann jederzeit eskalieren oder deeskalieren, den Krieg einfrieren und kalt werden lassen und bei Gelegenheit wieder heiß. Wie lange soll der Westen hier die Kosten und die Auswirkungen tragen?
Und dann noch eine ganz andere Frage vom Friedensfreund: Wieviele Menschenleben ist so ein abstraktes Gebilde wie ein Staat wert? Wieviele müssen sterben, bis man sagt "Wir können auch als Russen überleben. Dann sind wir vielleicht unterdrückt, aber immerhin am Leben." Tote genießen ihre Freiheit, um die sie gekämpft haben nicht.
Wann haben wir aufgegeben, das menschliche Leben als höchstes Gut zu betrachten?
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (24.02.2023 05:15).