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  • Karl-Katja Krach

528 Beiträge seit 09.07.2019

Kulturelle Metaphysik: Der Mensch als biologische Maschine

Sicher scheint bei alledem nur eines: der Trend zur Maschinisierung des Menschen stößt immer deutlicher von der klassischen Mensch-Maschine-Interaktion zur Mensch-Maschine-Konvergenz vor. Er fördert diese Konvergenz jedoch nicht nur in der Technik, sondern auch in der Gesellschaft – nicht zuletzt im kollektiven Imaginären. In der derzeitigen Übergangssituation verschwimmen Begriffe von Evolution und Antizipation, Kontinuität und Disruption, erkenntnis- und gewinnorientierte Visionen.

Leider unbeachtet bleibt in dieser Übersicht die kulturelle Metaphysik (das "kollektive Imaginäre") vom Menschen als biologische Maschine. Diese wird auch von Menschen mit ansonsten humanistischen Positionen vertreten, wie z.B. Harald Lesch.
Zwar sind sich die meisten Vertreter dieses Glaubens der Metaphorik dieser Rede bewusst, dennoch wird dies nicht zum Anlass eines exakteren Denkens gemacht. Statt dessen wird der Logos durch den Mythos ersetzt.
Derweil zeigt sich die Tatsache, dass KI schon in ihren Kinderschuhen dem menschlichen Gehirn in der Bewältigung berechenbarer Probleme weit überlegen ist. Das allein sollte schon genug sein, um den Gedanken an den Menschen als Maschine fallenzulassen.

Diese Auslassung korrespondiert mit der Methodik dieses Textes:
Für den didaktischen Zweck einer Übersicht über den Diskurs zu diesem eine Metaposition einnehmen zu wollen, ist verständlich, muss aber scheitern, da keine Reflexion des gesellschaftlichen Diskurses sich diesem entziehen kann. Scheinbar von einem Außen des Diskurs her nur zu sagen, dass es philosophische Kritik gibt oder dass philosophische Fragen oft gänzlich außen vor gelassen werden, führt dazu, dass philosophische Konzepte scheinbar unproblematisch "unter der Hand" eingeführt werden (können).

Schon obiges Zitat unterstellt, es gäbe "Begriffe", die "verschwimmen", was dem philosophischen "Begriff des Begriffes" widerspricht. Wenn sich Evolution nicht von Antizipation unterscheiden lässt, sind dies keine "Begriffe". "Konzept" wäre an dieser Stelle das passende Wort. Der "Begriff des Begriffes" lässt sich dekonstruieren, ist also auch nur ein kontrafaktisches philosophisches Konzept.

Dieses Unterschieben philosophisch diskussionswürdiger Konzepte ist problematisch, denn schließlich werden aus der Diskursübersicht konkrete Handlungsbedarfe abgeleitet:

Laut Bensoussan, der die EU auf verschiedenen Ebenen beriet, sind alle Menschen Personen, aber künftig nicht mehr alle Personen Menschen. Verbunden seien in einigen Jahren beide: KI-Roboter und Menschen durch "einzigartige Identität". Laut Bensoussan stehen intelligenten KI-Robotern deshalb früher oder später Personenrechte zu. Das würde schon bald zu einer "neuen Robotermenschheit" führen, aus der eine "neue Zivilisation" hervorgehe.

Diese Sichtweise ist jedoch umstritten. Denn sie würde massive soziale, politische und kulturelle Folgen zeitigen – und die bisherigen humanistischen Grundlagen europäisch-westlicher Politik und Gesellschaft aufheben könnte. Deshalb hat die EU-Kommission in ihrer KI-Strategie vom April 2018 die Verleihung von (bisherigen) Personenrechten an Roboter grundsätzlich abgelehnt – vorerst.

Wesentliches Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist bislang: die Entscheidungsträger auf allen Ebenen sind gefordert, sich mit dem Begriff "einzigartige Identität" und seiner Stellung in der Gesellschaft frühzeitig, umfassend und vertieft zu beschäftigen – weit mehr als bisher. Denn die offene Gesellschaft wird auf dem Weg in die hyper-technologische Zivilisation an zentraler Stelle Entscheidungen darüber treffen müssen, wer und was darunter fällt und wer und was nicht.

Das kann sie aber nur, wenn sie Zivilgesellschafter, Ökonomen, Techniker und Ingenieure, Kybernetiker, KI-Spezialisten, Politiker, Philosophen, Neurologen, Natur-, Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaftler und all jene, die in irgendeiner Weise am Identitätsbegriff denken und forschen, frühzeitig in "task forces" zusammenführt und sich um ein ganzheitliches, inter- und transdisziplinär zu gewinnendes Bild bemüht.

Dass Alain Bensoussan als einer der "führenden interdisziplinären Wissenschaftler" derartig fahrlässig mit dem Konzept der Person umgeht, dass er unterschlägt, dass
a) nicht alle Menschen Personen sein können (z.B. Säuglinge und Kleinkinder oder Menschen, die schwerste Hirnschäden haben oder im Koma liegen oder verstorben sind),
b) wir Menschen, die keine Personen sind, kontrafaktisch möglichst weitgehend als Personen behandeln (was ich richtig finde),
c) wir alle mehr oder weniger oft darin versagen uns als Person zu verhalten und
d) dass auch jetzt schon Firmen, also soziale Konstruktionen, kontrafaktisch als juristische Personen gelten (was ich nur sehr eingeschränkt richtig finde),
macht mir ehrlich gesagt Sorgen. Dass die Vereinfachung schon am Ansatz der Überlegung derartig grob vonstatten geht, erklärt zumindest die absurde These Bensoussans.

Was den vorliegenden Artikel von Roland Benedikter betrifft, setzen sich die philosophischen bzw metaphysischen Unterschiebungen fort:
Es wird das fragwürdige Konzept einer "einzigartigen Identität" eingeführt und gleichermaßen damit, dass ein Effekt gesellschaftlicher Machtkämpfe zum "Ergebnis" wird - als seien Machtkämpfe (mit KI) berechenbare Probleme und gesellschaftliche Diskurse Operationen einer Vernunft - wird daraus ein "Begriff" - als könne es sich bei der "einzigartigen Identität" nicht um so etwas handeln wie das "Phlogiston", der "Äther" oder - noch schlimmer, weil durch Experimente nicht widerlegbar - eine contradictio in adiecto, ein logischer Widerspruch in sich.

Einerseits liegt hier hoffentlich ein Übersetzungsproblem vor: "unique" lässt sich nicht einfach mit "einzigartig" übersetzen. Was jedenfalls eine Aussage wie jene bedeuten soll, dass es bald '8 Milliarden Arten von Identitäten' geben soll und warum nicht einfach '8 Milliarden Identitäten' und ob es dann nicht auch auch 8 Milliarden Theorien bedürfte, um diese zu beschreiben, bleibt schleierhaft.
"Unique" mit "singulär" zu übersetzen, ist auch nicht besser, da ergibt sich auch das Problem, dass nämlich jedes historische Ereignis singulär ist. Klopft wer drei mal an eine Tür, ist das zweite Klopfen schon allein dadurch vom ersten und dritten unterschieden, dass es nach dem ersten und vor dem dritten Klopfen stattfindet. Auch Serienwagen sind singulär, auch wenn sie sich nicht sicht- oder spürbar unterscheiden.

"Unique" bedeutet nicht "einzigartig". Einzigartig ist bisher der Holocaust, aber diese Art der Vernichtung könnte sich wiederholen, deswegen ist das "Nie wieder!" notwendig.
"Unique" bedeutet auch nicht "singulär", weil "unique" bedeutet, dass etwas nicht Teil einer Serie, einer Reihe ist.
Genau dies aber lässt sich in Bezug auf KI's als Industrieprodukte aber auch wiederum nicht sagen. Wie maschinell erzeugte sogenannte UID's (unique identifiers) sind KI's nur pseudo-unique.

Dass sich historisch und sozial überhaupt verschiedene "Identitäten" (exakt: "Identifizierungen") herausbilden konnten, setzt voraus, dass Menschen jede sogenannte Identität überschreiten können (paradoxerweise auch die als Mensch).
Jacques Derridas Wortneuschöpfung "différance" bedeutet - ohne darauf reduzierbar zu sein - dass Bewusstsein sich - bis zum unausweichlichen Tod - immer wieder zu sich selbst in der Vergangenheit in Beziehung setzen kann, ohne sich jedoch selbst in der Gegenwart jemals einzuholen, in dem Sinne, die Ökonomie der Zeichensetzung und die Machtprozesse, die dem Schreiben zugrundeliegen, vollständig zu durchschauen.

Ignoranz gegenüber der différance führt zu der Aporie (einem Widerspruch in der praktischen Anwendung theoretischer Konzepte), dass - als historische und soziale Bedingung des vorliegenden Diskurses über die conditio humana - die "Identität" per Diskursmacht gesetzt wird und dass genau dies schon der conditio humana widerspricht, die, was den vorliegenden Zusammenhang betrifft, gerade in der Möglichkeit der Verweigerung gegenüber der "Identität" besteht.

Diese Ignoranz nennt Jacques Derrida je nach Kontext Phonozentrismus oder Logozentrismus.
Eine logozentrische funktionale Organbiologie, nach der die Physis aus "Organen" mit "Funktionen" besteht und nicht einfach nur aus "Geweben" mit "Effekten" steht dabei in Korrespondenz mit der kulturellen Metaphysik vom Menschen als biologische Maschine.
Zudem korrespondiert eine logozentrische Evolutionstheorie, nach der Lebewesen aufgrund ihrer Angepasstheit überleben und nicht trotz ihrer Unangepasstheit, nicht nur mit dem (kapitalistischen) machtpolitischen Euphemismus der "sozialen Evolution", sondern auch mit sexistischen Konzepten von Evolution, die in nicht reproduktionsfähigen Individuen eine Art Ausschuss der Evolution sehen, als wäre die Natur eine Fabrik und die Gebärmutter ein Fließband.

Wo Menschen kämpfen, kämpfen sie um Macht und nicht ums Überleben, schrieb schon Nietzsche und hatte recht dabei. Wo es ums Überleben geht und nicht um Macht, arbeiten Menschen zusammen. Insofern haben Cyberimplantate erst etwas mit Evolution zu tun und nichts mit Macht, wenn die Menschheit vom Aussterben bedroht ist und, um zu überleben, sich als Menschheit technologisch verändert.
Das ist nun wirklich eine utopische Dystopie.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (14.02.2023 06:11).

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