Operativer Erfolg und mögliche strategische Niederlage der Ukraine

Nach meiner Meinung hat der Artikel die derzeitige Lage des russisch-ukrainischen Krieges recht treffend zusammengefasst.

Während viele westliche Experten noch immer rätseln, was das eigentlich handfeste Ziel der ukrainischen Offensive in Kursk sein soll, kann man die drei im Artikel genannten Punkte in jedem Fall anbringen:
1. Die Russen sollen gezwungen werden, Einheiten aus dem Osten der Ukraine nach Kursk zu verschieben um damit die ukrainischen Truppen in Toretzk, Chasiv Yar und um Pokrowsk zu entlasten.
2. Das russische Kernkraftwerk nahe Kurchatow wäre ein gelungener Faustpfand für die Ukraine (samt eingenommenem Gebiet in Kursk)
3. Die Moral der ukrainischen Truppe soll, nach den beschwerlichen letzten Monaten, gesteigert werden.

Während die Moral von Teilen der ukrainischen Truppe (speziell derjenigen, die in Kursk kämpfen) ein mittelfristiges Hoch erreicht, scheinen jene, die fortlaufend um Toretzk und insbesondere bei Pokrowsk kämpfen, mit den fortlaufenden Kämpfen immer mehr zu verzweifeln (siehe hierzu die Tweets von Tatarigami_ua - ukrainischer Offizier).

Zwar haben die Ukrainer die Russen in Kursk komplett überrascht, hunderte Kriegsgefangene genommen, ansehnliche Gebietsgewinne für sich verbucht und haben somit einen beachtlichen operativen Erfolg (den ihnen wohl vor etwas über einer Woche niemand im Ansatz zugetraut hätte). Jedoch sind die strategischen Ziele, die die Ukrainer mit dem Einsatz ihrer Reserven in Kursk erreichen wollen bzw. können, bisher nicht erreicht worden. Weder haben die Russen nennenswerte Einheiten aus dem Osten der Ukraine abgezogen (das meiste sind Teileinheiten aus dem Gebiet Belgorod, teilweise aus Cherson und Zaporizhia. Lediglich eine Teileinheit der 810. Marine-Infanterie Brigade der Russen wurde aus dem rückwärtigen Raum Pokrowsk abgezogen), noch wurde das Kernkraftwerk bei Kurchatow als Tausch- bzw. Verhandlungsmasse eingenommen.

Die Ukrainer benutzen wohlgemerkt insgesamt mindestens um die 4-5 (in Teilen stark mechanisierte) Brigaden für ihren Angriff, die bei der Verteidigung von Pokrowsk bzw. im Allgemeinen in Donetzk wichtig wären. Wenn die Ukrainer das eigenommene Gebiet, das nunmehr eine Frontlänge von über 120 km und eine Fläche von über die 800 km² umfasst, halten wollen, können sie die jetzt eingesetzten Brigaden nicht einfach abziehen. Sie müssen sich eingraben und mehrere Brigaden vor Ort belassen (wenn nicht sogar noch mehr Reserven einführen) um das Gebiet in Kursk zu halten. Anschließend beginnt auch in Kursk ein Stellungskrieg, bei dem die Russen mit ihren Gleitbomben und der zahlenmäßigen Überlegenheit bei der Artillerie die Ukrainer auch hier langsam aber sicher aufreiben würden.

Ich verstehe in jedem Fall, worum die Ukraine aktuell so handelt, wie sie handelt. Es ist besser strategische Risiken einzugehen und sich aus der Umklammerung der derzeitigen Abnutzung im Osten zu lösen, anstatt sich Meter für Meter, Soldat für Soldat wegbomben zu lassen. Aber genau aus diesem Grund ist diese Offensive, wie Herr Lange richtig schreibt, eher ein Akt der strategischen Verzweiflung. Die Ukrainer sind äußerst befähigt in der mobilen Kriegsführung, das beweisen sie derzeit wieder eindrucksvoll. Sofern die Russen jedoch weiterhin keine Einheiten aus dem Osten nach Kursk abziehen und derart zielsicher Richtung Pokrowsk vorrücken, wird es nicht mehr lange dauern (die Spitzen der Russen sind nur noch 10 km von Pokrowsk entfernt. Vor nicht mal einem Monat waren es noch mehr als 20 km), bis Pokrowsk und Myrnograd fallen. Dann können die Russen den gesamten Raum Donetzk - einschließlich der Agglomeration Kramatorsk-Slowiansk - von "hinten aufrollen".

Damit könnte zusammengefasst aus dem kurzfristigen operativen Sieg der ukrainischen Reserven in Kursk mittelfristig die russische Einnahme des größten logistischen Knotenpunktes in Donetzk folgen, der langfristig den russischen Sieg im Donbass einleiten könnte. - Eine strategische Niederlage der Ukraine.