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mehr als 1000 Beiträge seit 29.06.2001

Kultur und Natur

Noel Byron schrieb am 20. August 2002 16:19

> Mal vorab, ich bin kein Experte auf dem Gebiet und da auch
> nicht besonders belesen. Vielleicht liegt es ja auch
> nur an der Definition des Wortes 'Trieb'. Aber für mich
> bleibt der Sexualtrieb ein Trieb wie z.B. Essen.

Essen braucht man zum Überleben, aber selbst da ist es Menschen
zuweilen möglich, es zu verweigern. Wie einer der Texte besagte,
haben Tiere (gilt nicht für die Bonobo-Affen) Sex nur zur Vermehrung
und auch feste Paarungszeiten. Ihr ganzes Jahr ist quasi instinktiv
vorgeplant, wann sie Nester bauen, Sex haben u.s.w. Bei Menschen ist
es aber nicht so. Ginge es um das Überleben der Art, was ein Grund
für Sex als Trieb wäre, dann würde einmal im Jahr Sex vollkommen
reichen und wenn sie schwanger geworden ist, neun Monate Funkstille
sein. Aber auch schwangere Frauen (ich spreche aus Erfahrung) haben
weiterhin sexuelle Lust (ist bei Tieren nicht so). 

Wäre der Mensch so sehr von seinen Trieben bestimmt, wie Tiere, dann
wäre seine Hauptüberlebensstrategie, Flexibilität, unwirksam. Bei
Freud wird so getan, als sei der Mensch ein Tier + Kultur. Das
impliziert: Nimmt man dem Menschen die Kultur, bleibt das wilde,
triebhafte Tier übrig. Das ist aber falsch, denn ohne Kultur könnte
der Mensch gar nicht überleben. Weil er ein Mängelwesen mit
unzureichenden Instinkten und mieser Ausstattung ist,(schlechter
Geruchssinn, Sehsinn, Motorik, Kraft u.s.w)ist er ohne seine Kultur
(alles das, was nicht angeboren, sondern erlernt und überliefert wird
und durch eigene Denkleistung hervorgebracht) völlig
handlungsunfähig. Da seine Wahrnehmung nicht auf bestimmte
"natürliche" Schlüsselreize automatisch funktioniert, sondern er
erstmal (ohne Kultur) alle Reize wahrnimmt, würde er an absoluter
Reizüberflutung leiden und wüßte nicht, was er machen soll. Die
Wahrnehmung aller Reize ist erforderlich für seine Flexibilität, denn
wenndie Wahrnehmung auf einen bestimmten schlüsselreiz gerichtet ist
und alles andere nicht sieht, kann man sich nicht mehr aussuchen,
wofür man sich entscheidet. Man ist also völlig unflexibel. Die
Flexibilität zeigt sich, wenn du das Leben einer Tiergattung in
seinen festen Abläufen mit den vielfältigen Lebensanpassungen des
Menschen vom Nordpol bis zum Südpol vergleichst. Das gibt es in der
Tierwelt nicht einmal vergleichbar. Der Mensch kann nicht schnell
laufen, dann erfindet er eben Fortbewegungsmittel. Flexibles Denken
ist ähnlich dem kreativem Denken. 

Die Kultur schränkt die Reizüberflutung ein, indem überlieferte,
gelernte und durch eigenes Denken erschaffene Denk- und
Handlungskategorien wirksam werden. Diese selektieren und ordnen die
chaotische Umwelt. Der Mensch sieht die Welt sozusagen durch eine
Schablone an Denktheorien und Handlungsmustern, die er aber durch
seine Denkleistung verändern kann. Das tut er aber meistena nur, wenn
die alten Schablonen nicht mehr passen. Realität ist das, worauf sich
die Menschen einigen, was es ist. (Das sieht man z.B. sehr gut, wenn
man beobachtet wie Kinder beim Erlernen der Sprache zuerst Kategorien
lernen. Alles was z.B.lebendig ist, ist zunächst Wauwau, später wird
immer mehr differenziert, nach bestimmten Kriterien. Als zweite
Kategorie kommt z.B. hinzu: Alles was lebendig ist und fliegen kann.
das Kind lernt Sprache, indem es zuerst die logik der Sprache
versteht (Denkschema) und dann die neuen Begriffe dort einsortiert)
Man lenkt seine Aufmerksamkeit nicht automatisch auf Schlüsselreize,
sondern auf das, was man gelernt hat, was wichtig ist. Die Kultur ist
also ein ganz wichtiger Überlebensbestandteil und ein Menschenkind
braucht nicht umsonst mind. 15 Jahre, um als erwachsen zu gelten.
Wieso sollte der Sextrieb nun genauso funktionieren wie bei Tieren?
Logischer wäre es, dass er so funktioniert, wie alles andere beim
Menschen, nämlich Lust + kulturell Erlerntes, wie ich diese Gefühl
der Lust einordnen soll und was ich damit anfangen kann. 

Lust meint hier einfach die Feststellung, dass ich bestimmte erogene
Zonen habe. Kinder entdecken sie sehr früh (man sagt sogar schon im
Mutterleib), sie spielen auch schon "Doktorspiele" bevor sie sexuell
reif sind. Tiere verhalten sich hingegen vor ihrer sexuellen Reife
völlig asexuell. Kritisch wird es dann eben, wenn ich dieses
lustvolle Spielen und Erfahren des eigenen Körpers verboten bekomme,
weil es als sündhaft gilt. Jedesmal, wenn ich also Lust verspüre,
mich selber anzufassen, haut das schlechte Gewissen mir eins auf die
Finger. Es führt dazu, dass ich meine eigene Lust ablehne und wie es
mit verdrängten Dingen so ist, kommen sie nun dranghaft, immer dann,
wenn ich es gar nicht gebrauchen kann, wieder hoch. Der Sex wird als
triebhaft empfunden, weil ich meine, ich müßte diese Lust beherrschen
und ihr versagen. (Wenn ich mir vorgenommen habe, abzunehmen, wird
auch der Gang zum Kühlschrank dranghaft, vorausgesetzt, ich bin
längst satt, also nicht Esstrieb, sondern reine Esslust)

Eine weitere wichtige Überlebensstrategie ist die Teamarbeit und
gerade die soziale Intelligenz und die Fähigkeit zur Kommunikation,
sind bei Menschen besonders ausgeprägt. Was spräche also dagegen,
wenn, wie bei den Bonoboaffen, auch bei Menschen Sex eine Art soziale
Kommunikation ist. Das würde jedenfalls alle hier und in den anderen
Beiträgen von mir aufgezeigten Widersprüche eines Sextriebes,
auflösen. Ich will also nicht Sex, weil ich von der Natur quasi dazu
gezwungen werde (Ich persönlich fühle mich auch nicht gezwungen),
sondern, weil es lustvoll ist und ich anderen Menschen nah sein kann
und es die Gemeinschaft fördert, wenn man miteinander Spaß hat (siehe
Bonobos). Das reicht auch vollkommen, um die Fortpflanzung zu
sichern(siehe auch weiter unten)und erklärt auch, wieso mit freierer
sexueller Erziehung der Mensch eben nicht zum wilden Tier wird, weil
die kulturellen moralischen Bürden fehlen, sondern wahrscheinlich
eher ein schönes, ausgewogenes, gewaltfreies Sexualleben hat. Es
erklärt auch die fehlenden festen Paarungszeiten u.s.w.

Das als Beweis
> für ein nur anerzogenen Essentrieb zu nehmen halte
> ich für absurd.

Beim Esstrieb ist es eben etwas anderes, wie schon oben beschrieben.
Nahrung wird zur Erhaltung der Körperfunktionen benötigt, darum muss
sich der Körper natürlich melden, wenn er keine bekommt. Sex ist für
das eigene Überleben völlig unnötig, für das Überleben der Art wäre
es viel sinnvoller, auch zwecks Vermeidung von Überbevölkerung, feste
Paarungszeiten zu haben. Warum haben Menschen das Problem der
Überbevölkerung? Weil sie auch Sex haben über das notwendige
Überleben der Art hinaus. Der Sextrieb, sofern es ihn beim Menschen
gibt, scheint also einen Defekt zu haben, was es in der Natur aber
eigentlich nicht gibt. Ist Sex aber kein Trieb, sondern Lust, dann
wäre es erklärbar. Warum werden Menschen fett? Weil sie über den
Sättigungsgrad hinaus, dem Körper mehr Nahrung zuführen, als der
Essenstrieb für das Überleben vorschreibt, also aus reiner lust am
Essen, nicht Trieb. Übergewichtige Tiere gibt es auch nur, wenn der
Mensch sie mästet. 

> Vielleicht liegt das daran, dass ich ein Mann bin und
> schon Erfahrungen mit Sex-Verzicht während meiner BW
> Zeit habe.  ;o)

Wie in einem der Texte stand, wurde es noch vor c.a. 200 Jahren so
gesehen, dass die Frau den stärkeren Sexualtrieb hat und in vielen,
vor allem islamischen Ländern, wird es immer noch so gesehen. Wenn
die "Menge" des Sextriebes biologisch bedingt wäre (bei Männern und
Frauen unterschiedlich), wie können dann so widersprüchliche
Meinungen entstehen? Du liegst mit deiner Meinung, dass Männer
triebgesteuerter sind, einfach voll im Trend der Moderne und weil es
heute als nahezu selbstverständlich gilt und Männer sich auch gerne
wie "schwanzgesteuert" benehmen, wird es für richtig gehalten. Vor
200 Jahren hielt man das Gegenteil für richtig.
>  
> Und was mich noch brennend interessieren würde, kannst Du
> mit Deiner These auch Menschen mit Vorliebe für SM erklären?
> Woher kommen dominante und sadistische Neigungen dann? Die
> müssten ja dann anerlernt sein?

In dem Text über "Trieb"-täter wurde deutlich, dass es dabei gar
nicht um sexuelle Befriedigung geht, sondern um Machtbefriedigung,
darüber sind sich mittlerweile alle Psychologen einig. Sexuelle
Schlüsselreize werden erlernt. Das gilt auch für Fetischisten und
Homosexuelle, sowie alle anderen, die man fälschlicherweise als
"normal" bezeichnet. Es gibt nämlich kein "normal". Lust bereitet,
was man als lustvoll erlernt/erlebt hat. Wieso SM-Leute die Lust mit
Gewalt verbinden, weiß ich nicht genau, hat aber sicher ähnliche
Gründe, wieso andere auf rote Damenschuhe abfahren und der nächste
auf Blümchensex. Jeder Jeck ist anders und solange sich zwei einig
sind, ist es m.E. in Ordnung. Über Jürgen Bartsch sagt man, er hätte
Pflegeeltern gehabt, die ihn völlig lieblos behandelten und in der
Klosterschule sei er sexuell mißbraucht worden. Für Triebtäter gibt
es immer derlei Motive, die nichts mit einem erhöhtem sexuellen Trieb
zutun haben. Für Leute, die auf SM stehen, gibt es da sicher auch
Gründe, ich kenne sie aber nicht. Interessant ist jedenfalls, dass
oft Frauen, die mit Männern schlechte Erfahrungen gemacht haben,
recht psät lesbisch werden. Man kann es nicht als Modeerscheinung
abtuen, denn die verlieben sich dann tatsächlich in Frauen, also auch
ein Lernprozess. Auch interessant ist, dass Frauen, die Sex bisher
nur als schmerzvoll und nicht lustvoll erlebt haben, gar keine Lust
mehr auf Sex haben, (andere neigen zur Promiskuität). Wo bleiben da
die Triebe? Sehr viele Lernprozesse laufen eben unterbewußt ab, oder
in einem so frühen Alter, dass man es vergessen hat, es gelernt zu
haben. 

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