In einer Welt, die von kultureller Vielfalt durchwoben ist, findest du dich wieder, wie du unweigerlich die teils hochgebildeten Mitbürger mit asiatischem Hintergrund in einer rassistischen Tonart tadelst, weil für sie das Böllern ein integraler Bestandteil ihrer kulturellen Identität ist. Eine ziemlich bourgeoise Einstellung, könnte man meinen.
Um mich der Sprache der gegenwärtigen Jugend zu bedienen:
Böllern ist eben Teil des städtischen Lebens. Hier kann man nicht dem Anblick von Bayern in Lederhosen und Gamsbart bevorzugen, die enthusiastisch die "Schlandflagge" hissen (meistens eine Variation von "Schlaaand", nach vier Weißbier fehlerfrei gegröhlt) und daraufhin reflexartig zum Schuhplatteln übergehen. In diesen Momenten erblickt man auch jene, die sich mit einer fremden Kultur auseinandersetzen. Ja, sogar Menschen, die keine gutbürgerlichen Wurzeln habenund sich manierlich Silvester mit Kartoffelsalat und Wiener Würstchen schmecken lassen. Es sind Immigranten, Asylsuchende oder einfach Menschen, die eine andere Kultur schätzen, die nicht ihre eigene ist.
Ich verstehe, dass es dich zur Weißglut treibt, wenn:
Immigranten und Asylsuchende Spaß haben,
Arm und Reich gemeinsam feiern,
Kinder Freude empfinden,
Eltern einmal wieder jung sein dürfen,
Menschen, die sich sonst das ganze Jahr über nicht treffen, sich auf der Straße versammeln, Plastikbecher in der Hand halten und fröhlich "Frohes Neues" murmeln, während die Kinder begeistert Dinge in die Luft jagen,
Singles sich einmal im Jahr aus dem Haus trauen, heimlich ein keusches Neujahrsküsschen austauschen,
buddhistische Mitbürger böllern, um mögliche böse Geister zu vertreiben, und du das als feindlich empfindest. Warum können sie sich nicht der deutschen Leitkultur anpassen?
Gleichzeitig erkenne ich, wie du plötzlich konservativer wirst. Multikulti ist gut, solange es nicht vor deinen Augen stattfindet. Du bist für Spaß, aber bitte nur so lange, wie es für dich nicht offensichtlich wird.
Plötzlich verstehst du den AFD-Anhänger, der sich über Grillabende aufregt, bei denen keine deutschen Schlager gespielt werden, sondern fremdländische Musik! Das ist ein Feindsender! Da kann man nicht kontrollieren, was gespielt wird! Anzeigen!
Plötzlich begreifst du Horst, der gerne mit Ausländern auskommt, aber fragt, ob das wirklich immer so laut sein muss?
Plötzlich verstehst du genau, wie sich die Tante fühlt, die drei junge Deutsche mit Migrationshintergrund dabei erwischt, wie sie nicht Deutsch miteinander sprechen, und deshalb erstmal die Polizei ruft, um nicht angegriffen zu werden.
Plötzlich fühlst du mit dem streng religiösen Fanatiker mit, der sich vor Wut schäumend über die CSD-Parade beschwert. Einmal im Jahr versteht der Rechtsradikale keinen Spaß; da gehört Recht und Ordnung hin.
Du verstehst den Glatzköpfigen, der sagt, "Ja, ja, die Ausländer klauen voll", weil er das für sehr einfallsreich hält.
Du verstehst den Rechtsradikalen, der auf einer Demo der Linken sieht, wie Pyro gezündet wird, und am liebsten hätte, dass die Polizei alle zusammenschlägt, weil das ein Angriff auf die Obrigkeit war. Sie haben einen Mülleimer in Brand gesteckt? Sofort niederschießen!
Und plötzlich verstehst du auch den Verschwörungstheoretiker, der nicht begreift, warum die Meinung seiner Experten korrekt ist, aber die Realität vor seinem Fenster völlig anders aussieht.
Ich, mein lieber Freund, übe mich bereits in meinen Vorsätzen für das neue Jahr und teile dies freundlich mit dir.
Silvester/Neujahr ist so ziemlich das einzige Fest, das kulturübergreifend gemeinsam gefeiert wird. Das verstehen alle, egal ob aus Ankara oder Karlsruhe, New York oder Paris, Kalkutta oder Peking, ob man seit fünf Minuten echter Deutscher ist oder sein ganzes Leben lang. Es vereint etwa 1000 Kulturen, jeder steuert seinen Beitrag bei, und es bereitet allen Freude. Niemand regt sich auf, jeder akzeptiert den anderen, und einmal im Jahr ist jeder glücklich, dass wir das hinter uns haben. Und weltweit wird überall zum Jahreswechsel Krach gemacht.
Diejenigen, die sich darüber freuen, kaufen Böller. Diejenigen, die es nicht nötig haben, tun es nicht. Zeitungen mögen behaupten, dass Böller und Raketen nicht mehr zeitgemäß sind, aber geh einfach mal in deinen Vertrauensdiscounter – die Raketen sind seit dem 29. ausverkauft. An Neujahr kommt dann die Probe aufs Exempel: Was ist passiert? Wie verlässlich war meine Lieblingsnachrichtenquelle? Haben sie eine Ahnung von der echten Welt oder raten sie nur? Hat ein Jahr Verbotspolitik geholfen?
Wir haben also ein Fest der gelebten Multikulti. Arm und Reich feiern, als Auflehnung gegen die vorherrschende Naturordnung und in der Hoffnung, dass die Tage wieder länger werden. Die Kinder böllern am meisten, ohne auf Hautfarbe oder sonstiges zu achten. Es muss einfach nur krachen.
Die Alten böllern auch, aber wenn sie nicht mehr wollen oder können, schenken sie den Rest den Kindern. Die werden das schon hinkriegen, irgendwie. Es ist die Zeit, in der man sich mal nicht aufregt, sondern sagt: "Die Kiddies bekommen das schon hin" und sich in Deckung begibt, wenn stolze Papas atomwaffenähnliche Feuerwerkskörper aus dem Kofferraum hervorzaubern.
Es ist die Zeit im Jahr, in der das Alte weicht und dem Neuen Platz macht. Früher haben wir uns darauf gefreut, endlich alt genug zu sein, um selbst zu böllern. Jeder erinnert sich an den Moment, in dem man Silvester entgegenblickte und endlich das Geld hatte, um so zu böllern, wie man es immer wollte, aber die Lust dazu fehlte. Es reichte, etwas Kleines zu haben, das man im kleinen Kreis anzündete, und nicht etwas Massives. Das überließ man schon der nächsten Generation. Man konnte es ja vom Balkon aus beobachten.