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Avatar von Axel Farr
  • Axel Farr

mehr als 1000 Beiträge seit 06.05.2002

"Die derzeitige Phase der Feindseligkeiten zwischen Russland und der Ukraine"

Schon der erste Satz zeigt eine ziemlich gewaltige Verrenkung des Autors.

Warum kann man in einem Artikel nicht klar die Karten auf den Tisch legen? Dass Russland anlasslos das Nachbarland mit einem Krieg überzogen hat, um es zu erobern?

Ein anderes Beispiel ist der Teilsatz "seit dem Beginn der militärischen Aufrüstung Russlands im Jahr 2021". Ich würde eher sagen, dass Russland gefühlt seit dem Jahr 2000 militärisch aufrüstet. Russland hat im übrigen schon 2020 einen Truppenaufmarsch an den Grenzen der Ukraine fabriziert, sich dann aber nach diplomatischer Intervention des Westens wieder (teilweise) zurückgezogen - nur um 2021 wieder loszulegen. Ein Truppenaufmarsch an der Grenze zu einem Nachbarland ist im übrigen keine Aufrüstung, sondern fällt in das Gebiet der militärischen Bedrohung - und verstößt damit gegen UN-Vorgaben zum friedlichen Miteinander der Völker.

Die "Vertragsentwürfe" sind hier nachzulesen:
https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790818/?lang=en

Sie sind mitnichten bilaterale Vorschläge, es sind de facto Ultimaten, die Russland dem Westen auferlegen wollte - warum Russland und der Autor das mit dem Überfall auf die Ukraine verknüpft haben, wissen die Götter. Kiew hat sich dazu eigentlich gar nix gewünscht, denn damals war die Intention in Kiew noch, Russlands Säbelrasseln schweigend über sich ergehen zu lassen und nachher zu hoffen, dass vielleicht Putin doch gewillt sein könnte, mal die angefragte Verhandlung mit Selensky über den Donbass und die Krim zu starten. Einen offenen Überfall des Nachbarlands hielt man bis zur Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2022 in Kiew (zumindest offiziell) noch nicht für möglich.

Ziel des Budapester Memorandums war es vor allen Dingen, dass sich die (damals in Finanznöten befindlichen) Staaten der ehemaligen Sowjetunion geordnet ihrer Atomwaffen und der strategischen Trägersysteme entledigen konnten - man hielt damals im Westen Russland noch für den zuverlässigsten Staat, bei Weißrussland, der Ukraine und Kasachstan hatte man größere Bedenken, dass diesen die Atomwaffen "abhanden" kommen könnte, da die Waffen und Trägersysteme nach dem Ende der Sowjetunion von diesen Staaten immer weniger gewartet wurden und nicht kontrolliert werden konnten.

Da alle beteiligten postsowjetischen Staaten damals noch in der GUS zusammengeschlossen waren und die ehemalige Militärmacht komplett am zerfallen war hat man sich auch im Rest der Welt keine großen Gedanken gemacht, dass irgend wann einmal Russen auf Ukrainer schießen würden, nur weil die Ukrainer in die EU wollen (das war faktisch der Grund, warum Russland 2014 die Krim annektiert und den Krieg im Donbass gestartet hatte).

Seltsam finde ich diesen Passus:

Besonders bemerkenswert ist, dass Atlantiker und proukrainische Befürworter oft darauf bestehen, dass Kiew seine Atomwaffen – das ultimative Abschreckungsmittel und die Garantie für seine eigene Sicherheit – im Austausch für das Versprechen, seine Grenzen zu respektieren, aufgegeben hat.

Diese Aussage ist entweder ausgemachter Blödsinn oder der Autor versteht nicht, dass er mit dem Umkehrschluss dieser Aussage eben genau das Argument liefert, warum jeder Staat Atomwaffen braucht. Nicht "Atlantiker und ..." sind der Meinung, dass Kiew und andere GUS-Staaten damit sicherstellen wollten, dass die Grenzen respektiert werden - sondern das ist eine Selbstverständlichkeit, dass man nicht als militärisch hochgerüsteter Staat mit fadenscheinigen Begründungen sein Nachbarland überfallen kann. Es ist schlicht und einfach so, dass Russlands Einfall auf die Krim die erste Verletzung der auch im Budapester Memorandum zugesicherten territorialen Unversertheit der Ukraine durch Russland war - neben anderer Verträgen, z.B. dem Pachtvertrag für den Hafen in Sewastopol (der ein Verbot einschloss, dass Russlands Truppen aus dem Pachtgebiet in der Ukraine eingesetzt werden).

Zu der angeblichen Nicht-Ratifizierung des Memorandums durch den US-Senat: Das Dokument ist ein "Memorandum", im Wikipedia-Artikel dazu ist recht ausführlich erklärt, worin es sich von einem zwischenstaatlichen oder multistaatlichen Vertrag unterscheidet. Dort steht auch, dass die Duma in Moskau ebenfalls keine Ratifizierung ausgesprochen habe. Als Memorandum ist es mehr oder weniger eine Willenserklärung der beteiligten Parteien, ohne dass es rechtliche Wirkung entfaltet.

Im Memorandum sind auch keine militärischen Beistandspflichten enthalten. Wären die drin gewesen, wären die schon 2014 mit der russischen Besetzung der Krim fällig geworden. Es wird im Gegenteil auf die UN und den Sicherheitsrat verwiesen. Genau da ist aber Russland ebenfalls vertragsbrüchig geworden, indem es als Veto-Macht jweils eine gegen die Anexion / den Krieg gerichtete Resolution verhindert hat.

Der folgende Satz sollte vielleich auch etwas umgeschrieben werden, wenn man nicht als Geschichtsfälscher dastehen möchte:

In diesem Zusammenhang müssen die westlichen Staaten sorgfältig abwägen, wie weit sie zu gehen bereit sind, da Russland seine Bereitschaft gezeigt hat, für die Ukraine zu kämpfen, während der Westen dies – abgesehen von ersten Vorschlägen europäischer Friedenswächter – nicht getan hat.

Ich möchte behaupten dass man zwischen "kämpfen für" und "kämpfen gegen" unterscheiden sollte - Russland kämpft in diesem Krieg eindeutig gegen die Ukraine, nur das erklärt, dass durch russische Soldaten Ukrainer Schaden nehmen und zu Tode kommen...

Diesen Abschnitt:

Doch Kiew war nur allzu froh, dass es die Minsker Vereinbarungen, die die anfänglichen Kämpfe im Donbas-Konflikt beendet hatten, nicht umgesetzt hatte, und nutzte die Jahre zwischen 2015 und 2022, um seine Position zu stärken.

Würde ich eher so formulieren: Kiew hatte sich bemüht, die Vereinbarungen umzusetzen, aber die von Russland verdingten "Volksrepublikaner" haben nicht zugelassen oder nicht zulassen dürfen, dass die Vereinbarung eingehalten werden kann. Stattdessen herrschten im Donbass Zustände wie in einer Räuberhöhle, die Machthaber waren entweder nicht in der Lage oder nicht gewillt, dort eine funktionierende Regierung aufzustellen. Sowohl Russland als auch die Volksrepubliken sprachen Kiew grundsätzlich das Verhandlungsmandat ab, es wurde provoziert, jegliche Reaktion darauf aus Kiew aber sofort als Verletzung der Minsker Vereinbarung reklamiert. Bis dann im Februar 2022 die OSZE-Truppen faktisch aus dem Donbass geworfen wurden, um ungestört den Krieg starten zu können.

Zum Abschluss noch:

Es ist leicht zu sagen, pacta sunt servanda, Vereinbarungen müssen eingehalten werden. Aber dazu muss Vertrauen aufgebaut und erhalten werden.

Sehe ich genauso. Wer aber mit 200.000 Mann in das Nachbarland einfällt, der hat viel Vertrauen verspielt. Das kann er nicht dadurch wieder gewinnen, dass er nach über 1 Million Toter und Verletzten auf beiden Seiten zwar vordergründig behauptet, an Verhandlungen interessiert zu sein, in seinen Taten aber zeigt, dass er auch für die nächste Million Tote und Verletze bereit zu sein scheint.

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