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  • Philipp Müller_952

123 Beiträge seit 08.10.2015

Bildungskollaps

Ich habe schon an anderer Stelle über die Lehrerausbildungsverhältnisse (insbesondere in Berlin) aus eigener Anschauung geschrieben. Für alle Interessierten setze ich den Link ans Ende des Beitrags.
Für alle anderen: Die Lehrerausbildung ist nicht nur praxisfern, sie ist vollkommen fehlgesteuert, führt bereits im Studium zur Frustration, ist unterfinanziert und, durch den Bildungsföderalismus, nicht am realen Bedarf ausgerichtet. Seit Jahrzehnten.

Die praktizierte Lösung für den Lehrermangel besteht nicht nur aus Quer- und Seiteneinsteigern, halbausgebildeten Studenten oder fachfremden Lehrkräften, sondern auch in Vorschlägen Lehrern ein größeres Arbeitspensum zuzuschieben, indem bspw. die Teilzeitregelungen verschlechtert werden sollen (mehr Mindeststunden). Dabei sind die Lehrkräfte nicht aus Langeweile in Teilzeit, sondern weil vielerorts die Arbeit in Vollzeit nicht (dauerhaft) leistbar ist. Ein größeres Arbeitspensum dürfte dadurch zwar für einige Jahre die größten Löcher reduzieren, aber mittelfristig umso stärker zurückschlagen: Mehr Leute, die ihren Job aufgeben, mehr berufsbedingte Erkrankungen. Vor allem dann, wenn die Ausbildung weiterhin unzureichend bleibt, was Qualität und Anzahl der Neuausgebildeten angeht. Genau danach sieht es allerdings aus.

Mit Verwunderung lese ich die Beiträge mancher Mitforenten, die die Schuld am Bildungsschlamassel den Lehrern wegen ihrer Arbeitsmoral oder ihrer Berufbiographie zuschreiben (sinngemäß 'wenn man nicht weiß, was man werden soll, wird man Lehrer und dann wundert man sich, wie schwer das ist'). Da wird dann Kant zitiert oder die banale Aussage vorgetragen, dass es 'sone und solche' Lehrer gibt, um die Überlastung der Lehrer zum individuellen Problem zu erklären. Ganz so als würde das Arbeitsumfeld in den Schulen nicht politisch bestimmt, die Lehrerausbildung auch nicht und als hätten die Probleme der Schüler, die in der Schule aufgefangen werden sollen, keine gesellschaftlichen Ursachen.
Es gibt Schulen, an denen die Arbeitsmoral schlecht ist - nicht zu wenige. Meist stinkt der Fisch vom Kopf und die Schulleitung leistet schlechte Arbeit und wer sich dem nicht anschließen will, der kämpft auf verlorenem Posten. Denn wenn die Schulleitung nicht richtig arbeitet, dann kommen auf alle anderen Mehraufwände zu. Frustration ist da vorprogrammiert und die Kollegen, die einen gewissen Standard einhalten wollen, geben früher oder später auf - sie gehen oder passen sich an. Das ist auch nicht schulspezifisch, sondern kann überall da beobachtet werden, wo der Abteilungsleiter eine Pfeife ist, aber seine Aufgaben über den eines unnötigen Wasserkopfes hinausgehen. Eine engagierte, qualifizierte Schulleitung bewirkt wahre Wunder. Ich würde jedem, der sich in der glücklichen Situation befindet die Schule seiner Kinder aussuchen zu können, raten, sich vorher einen Eindruck von der Schulleitung zu machen. Nur ist es so, dass Schulleiter, wenn sie wirklich alle Aufgaben erfüllen wollen, selbst ständig überlastet sind: Organisation mit unzureichenden Mitteln, undurchführbare Verwaltungsvorgaben, Kampf mit der Politik - alles im Aufgabenbenbereich der Schulleitung und höchst frustrierend. So ist es auch kein Wunder, dass deutsche Schulverwaltungen Schwierigkeiten haben neue Schulleitungen zu finden und dann teilweise auf, von vornherein, ungeeignete Direktoren zurückgreifen. Teilweise findet man auch geeignete Kandidaten, die dann nach Jahren frustriert aufgeben.
Auf der Ebene der Lehrer selbst, gibt es viele Fälle, wo die konkrete Arbeit und die Motivation keinen guten Unterricht zulassen. Aber auch hier wieder das gleiche Problem: Die außerunterrichtlichen Aufgben haben zugenommen, sind aber oftmals sinnlos oder frustrierend, die Ausstattung ist teilweise schlecht. Um die gesellschaftlichen Probleme aufzufangen, die sich in den Schülern widerspiegeln, sind die Klassen zu groß, sodass Schüler zwangsläufig zurückbleiben. Dazu kommen zu wenige Kollegen, zu wenig Fortbildung und ein steigender Krankenstand der aufgefangen werden muss. Vielerorts ist der Unterricht aus all diesen Gründen nur noch frustrierend und wer ernsthaft glaubt, dass Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte nur frustrierende Arbeit verrichten sollen, dauerhaft qualitativ hochwertige Arbeit leisten, der soll mal darüber nachdenken, ob er es tun würde. Ohne krank zu werden, ohne hinzuschmeißen oder ohne sich in Apathie im Job zu flüchten.
Dummerweise setzt die Frustration aber vorher schon, in der Ausbildung, ein und wer gänzlich ungeeignet ist, stellt das erst am Ende der Ausbildung fest (unabhängig von der ursprünglichen Motivation) - dann ist es meist zu spät. Wieder: Nach 4,5 oder 6 Jahren Ausbildung festzustellen, dass man ungeeignet für den Beruf ist, ist nicht nur frustrierend, sondern bedeutet teilweise real, dass man 'jetzt aber trotzdem durchzieht' - mangels anderer Perspektive. Darunter leidet dann die Unterrichtsqualität, aber wer glaubt, dass 'einfach was anderes machen' an diesem Punkt für viele eine Alternative ist, der ist entweder selber ökonomisch hervorragend abgesichert oder unglaublich naiv.
Will man solche Lehrer nicht an Schulen haben, dann muss man tatsächlich die Eignung zu Beginn des Studiums untersuchen und die angehenden Lehrer früher und mehr in die Praxis schicken. Ironischerweise scheiden viele, die den Job mangels Alternative oder wegen der Sicherheit machen wollen, auch während des Studiums aus - obwohl ihre Eignung niemals richtig festgestellt wurde.

Dabei hat die Schule eine zentrale gesellschaftliche Funktion. Dass man für die Schule und nicht fürs Leben lernt, stimmt an vielen Punkten, aber das liegt nur bedingt an der Schule an sich, sondern daran, unter welchen Bedingungen an der Schule gearbeitet werden kann. Ob fragwürdige Bildungsziele, unzureichende Ausstattung, Überarbeitung oder neue (soziale) Funktionen, nichts davon können Lehrer maßgeblich beeinflussen (der Großteil der Bevölkerung allerdings aktuell auch nicht). Wer aufgeklärte Erwachsene haben möchte, der muss diesen aber nicht nur kritisches Denken beibringen (was in der Schule leider viel zu oft nicht geschieht/geschehen kann), sondern auch dafür sorgen, dass überhaupt eine Basis an Wissen und Fähigkeiten vorhanden ist, durch die man sich seines Verstandes bedienen kann.[1] Die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten kann über die Schule umfassender und effizienter gestaltet werden als es die reine Elternerziehung kann. Auch Kant und die anderen Aufklärer haben auf Wissen und Fähigkeiten aufgebaut, die ihnen durch (Schul-)Bildung vermittelt wurde. Die einzigen, die diese Vermittlung im gesellschaftlichen Maßstab betreiben können, sind Lehrer. Bei der aktuellen Entwicklung bricht aber schon die rudimentäre Bildung, die momentan noch gewährleistet werden kann, in der Breite zusammen. Dann landen wir wieder bei (Aus-)bildung und Aufklärung als Privileg weniger Reicher. Auf dem Weg sind wir jetzt schon, aber er ist nicht gottgeben und es ist möglich davon abzuweichen.

[1] Ein sehr einfaches Beispiel zur Verdeutlichung: Würde Kants Philosophie existieren, wenn er niemals Lesen und Schreiben gelernt hätte?

https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Studie-sagt-dramatischen-Lehrermangel-voraus/Eine-Berliner-Perspektive/posting-40816004/show/

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