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  • multicast (1)

66 Beiträge seit 13.03.2017

Ländersache, hier: NRW

Sprechen wir mal von "meinem" Bundesland NRW und zwar übers Fach Mathematik. Da liegt so viel im Ärgsten, dass ich kaum weiß, wo ich beginnen soll. Gleichviel, fangen wir mal an, vielleicht mal von oben.

Der Untergang begann mit der Einführung von "G8". Die damalige Bildungsministerin, danach befragt, warum G8 in NRW eingeführt werden solle, antwortete (u.a.) damit, dass das Bayern ja auch habe ... Das pseudo-ehrgeizige Ziel, den kompletten Lehrinhalt in einem Jahr weniger zu vermitteln, ist von Anfang an gescheitert. Und dann "unsere" grüne Löhrmann, die, sich selbst auf die Schultern klopfend, stolz verkündete, dass in NRW nunmehr knapp 2/3 aller Schüler Gymnasier seien ...

Wie soll denn das mit dem vertikalen Schulsystem -- Förderschule, Hauptschule, Realschule, Gesamtschule, Gymnasium -- zusammengehen? Gehören dann auf einem Zweidrittel aller Schüler zur "Spitze"? Tatsache ist, dass im Laufe der Jahre der Lehrplan immer weiter abgespeckt wurde und überdies mathematikwidrige Themen in denselben aufgenommen wurden; dazu unten mehr. Ein paar kleine Beispiele. In NRW wurde algebraische Bruchrechnung, ehedem Teil der Untertertia, ersatzlos gestrichen. In der für die dem mathematischen Handwerk dienenden besagten Klasse 8 ist die Ausbildung von algebraischen Umformungen auf ein Minimum reduziert -- die Kinder sollen ja nicht mit "Päckchenaufgaben", also solche, in denen immer wieder Ähnliches geübt werden soll, belästigt werden. Das ist so, als könne man das Klavierspielen erlernen, indem man nur die weißen und schwarzen Tasten zählt und keine Etüden übt. --

Weiter geht's mit Polynomdivision bzw. Horner-Schema. Ohne diese fundamentale Rechentechnik vermag der Schüler keine Nullstellen von Polynomen höheren als zweiten Grades zu ermitteln -- von ein paar Spezialfällen abgesehen --, was dann bspw. die Auswahl von Abiturthemen drastisch einschränkt. (Und selbst das Lösen quadratischer Gleichung gerät immer mehr zum Glücksspiel. Du glaubst es nicht? Dann lasse mal den Neuntklässler neben Dir die Gleichung 3x^2 - 7x - 10 = 0 ohne Taschenrechner lösen ...) Der fehlende Umgang mit Brüchen verwehrt dem Schüler den Eintritt in die (reichhaltige) Welt der gebrochen-rationalen Funktionen. Wurde ersatzfrei gestrichen, wegen der gestrichen Inhalte aus Schuljahr 8. Die Schüler sind dem Diktat von "Kompetenz und Methode" ausgeliefert und können vor lauter "Kompetenzen" nicht mehr richtig rechnen. Und das fängt bereits in der Grundschule an: Man mutet den Kindern nicht mehr zu, das Kleine Einmaleins auswendig zu lernen, die leiden dann alle an "Dyskalkulie" oder haben, sofern sie alle Pärchen von Zahlen, der Summe 10 ergibt, nicht gelernt haben, ein "Problem mit dem Dezimalsystem".

Da gäbe es noch mehr zu berichten, kommen wir aber jetzt einmal auf die sog. "Inhalte" zu sprechen. Im Geometrieunterricht der Mittelstufe wird noch nicht einmal im Entferntesten der Umgang mit Zirkel und Lineal vermittelt. Die von den Schülern angefertigen Dreieckskonstruktionen kommen Kohlezeichnung sehr nahe. Das Erlernen von Beweistechniken -- dem Alpha und Omega der Mathematik -- ist nirgends mehr im Lehrplan vorhanden. Dabei ist doch gerade die elementare Mittelstufengeometrie *das* Gebiet schlechthin, auf welchem Beweisen erlernt werden kann.

Das Erlernen von funktionalem Denken ist vollkommen vom Schirm, noch nicht einmal ansatzweise wird dem Schüler ein rechter Begriff von Funktionen vermittelt. Da erwischt es Dich als Lehrer kalt, wenn der 10-Klässler fragt, wie groß denn x in f(x) = 2x + 3 sei ... Apropos zehnte Klasse: etwa ein Drittel derselben ist der Überzeugung, dass -3 - 5 eine positive Zahl sei, denn dort stehe ja "minus und minus". "Gibt plus, haben wir so gelernt!"

Vielleicht liegt es an der Ausbildung der Lehrer? Habe selbst ein paar Jahre an einem örtlichen Gymnasium Unterricht erteilt und war erstaunt, dass kaum ein Kollege den Inhalt des Sinussatzes, dass also das Verhältnis aus eine Seite und dem Sinus des gegenüberliegenden Winkels in einem Dreieck der Umkreisdurchmesser ist, bekannt war. Da gab es noch mehr Klöpse, als mich eine Studienrätin frug, wie man die Gleichung x*e^x = 2 lösen können. Ihr war nicht klar, dass es keine algebraische Lösung gibt. (Und nun komme mir bitte keiner mit Lambert, wir reden vom Gymnasium.) Und dann das jährlich wiederkehrende Gesülze davon, dass die EF (so nannte sich die Klasse 10) nicht rechnen könne; ich frug mich dann im Stillen, wer von den Kollegen eben diesen Menschen das Rechnen *nicht* beigebracht hatte, vergleiche das genannte "minus und minus" von oben.

Weiter geht's mit der gymnasialen Oberstufe hier in NRW. Die überaus reichhaltige Differentialrechnung wird beinahe ausschließlich zwanghaft und widersinnig dem Diktat der "Änderungsrate" unterworfen. Ansprechende Themen wie Extremwertaufgaben mit Nebenbedingungen und Funktionenscharen bleiben häufig wegen der mangelnden Rechenfähigkeit -- welche ja so lehrplanmäßig festgelegt wurde -- auf dem Niveau vom Schuljahr 9. Die Vektorrechnung, ehedem ein Beispiel für eine "geschlossene Theorie", wird vollkommen unorganisch und strukturlos heruntergehaspelt. Im Bereich der Wahrscheinlichkeitsrechnung erscheint der Zentrale Grenzwertsatz wie Kai aus der Kiste. Noch nicht einmal ansatzweise wird auf die Bedeutung der Varianz eingegangen: das Wort "Varianz" erscheint gar nicht in Schulbüchern, sondern nur "Standardabweichung". Die Integralrechnung "begnügt" sich mit den immer gleichen und trivialen Ermittlung von Flächeninhalten und steht "theoretisch" noch nicht einmal auf tönernen Füßen. Ach ja: wir haben ja das Beweisen noch nicht einmal ansatzweise erlernt, der Lehrplan wollte es nicht. Fortgeschrittene Integrationsmethoden werden noch nicht einmal gestreift. Grenzwertrechnung ist nicht im Lehrplan enthalten.

Und dann sollen die Kinder an ihrer "Lebenswirklichkeit" abgeholt werden. So etwa im Bereich der Differentialrechnung, wo der Schüler anhand von nicht zu komplizierten Funktionen die Füllstände eines Stadions berechnen soll. Aha. Oder in der Verktorrechung soll lebenswirklich erkundet werden, ob zwei Flugzeuge kollidieren. Aus der Lebenswirklichkeit vor der Einführung der Flugsicherung. Weitere Beispiele finden sich bei Franz Lemmermeyer https://www.mathi.uni-heidelberg.de/~flemmermeyer/publ/dida3.pdf Hier findet man auch "Zwei Aufgaben jenseits der moralischen Schmerzgrenze sollen zeigen, welches Bild künftige Schülergenerationen von Mathematikern haben dürften." Er konstatiert auch, dass der Niveauverlust endgültig ist.

Mal zum Ende mal das Wort eines Mathematikers. Wer glaubt, dass Mathematik im "wirklichen Leben" nützt, hat den Sinn der Schulmathematik nicht im mindesten Begriffen. Noch bis vor einigen Jahrzehnten sprach man von "Bürgerliche Mathematik"; diese umfasste Bruchrechnung und deren Anwendungen wie Zins- und Prozentrechnung sowie Dreisatz. Man sollte sich nicht fragen: "Was kann ich mit Mathematik anfangen?", denn die ehrliche Antwort ist: "Nichts." Bleibt aber eben noch die Frage, was die Mathematik mit einem selbst anfängt, gesetzt, man läßt sich auf sie ein.

Die heutige Schulmathematik verdient ihren Namen nicht, sie ist Aftermathematik, eine Vergeudung und Vergewaltigung junger Menschen.

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