Nun also gilt die Inzidenz nichts mehr. Die Inzidenz war seit je her schon eine Luftnummer. Ohne Berücksichtigung von Prävalenz, ct-Wert und anderen relevanten Faktoren war sie nur eine Zahl ohne größere Aussagekraft. Genau so wie vorher der R-Wert und davor die Verdoppelungszahl.Klar, findige Mathematiker haben so lange ihre Formeln hingebogen, bis sich eine Korrelation zwischen Inzidenz und Belegung der Intensivbetten ergab. Angesichts der zahlreichen Paradigmenwechsel bei den Tests und der schwankenden Zahl von verfügbaren Betten ist das schon eine stramme Leistung.
Nun hat man ohne größere Debatte die Inzidenz, die eh schon immer 10-14 Tage hinter der Infektion hinter her hinkt, durch die Belegung der Intensivstationen ersetzt. Also noch mal ein paar Tage später. Gratuliere, beim Thema "Totzeit" (Deadband) voll geschlafen bzw. nie auch nur eine Vorlesung in Regelungstechnik besucht.
Man stelle sich mal vor, man säße in einem Auto. Doch anstatt einer Windschutzscheibe hat man ein Display, welches mit einer Kamera auf der Motorhaube verbunden ist. Doch zwischen Kamera und Display sorgt die Technik für eine Minute Laufzeit-Verzögerung. So kann man kein Auto steuern.
Wenn man überhaupt noch bei der aktuellen Quote aus doppelt Geimpften und Genesenen Maßnahmen braucht, dann sollte man die Zahlen gewichten. Nach 18 Monaten sollte man wissen, was ein "positiver Test" bei einem gesunden Zwanzigjährigen bedeutet. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass er intensivmedizinisch behandelt werden muss. Und ebenso sollten Zahlen dazu vorliegen, wie häufig doppelt geimpfte Senioren im Fall einer erneuten Erkrankung auf der Intensivstation behandelt werden müssen.
Die Gewichtung von Rohdaten zählt zu den elementaren Grundfertigkeiten von Mathematikern und Statistikern. Wer Zahlen ohne Berücksichtigung der Relevanz einfach zusammen rechnet, der sollte besser gleich die Finger davon lassen und lieber das Feld für Fachleute räumen. Nach 18 Monaten darf man erwarten, dass politische Entscheidungen zur Bekämpfung der Pandemie auf ein solides Fundament gestellt werden.
Alles andere ist Willkür.
Mich würde brennend interessieren, ob Labore mittlerweile ihre Daten digital an das RKI übermitteln. Herr Wieler hat dies vor einem Jahr einmal in einer PK angekündigt. Seit dem ist es still darum geworden. Ich vermute, da die Zahlen an den Wochenenden noch immer kleiner ausfallen als unter der Woche, obwohl Testzentren und Labore mutmaßlich auch an den Wochenenden arbeiten (zumindest würde ich dies erwarten), dass es unverändert bei der Auswertung hapert. Schon merkwürdig, dass man hier nicht längst mit technischen Mitteln die Latenz verringert hat.
Aber was soll man von Leuten erwarten, die bei einer Latenz von mehreren Tagen immer wieder hektisch am Regler drehen? Klassische Regelungstechnik funktioniert nicht bei einer Latenz von mehreren Tagen. Die Wellen, die wir immer wieder gesehen haben, sind auch eine Folge des ständigen Wechsels zwischen "Auf" und "Zu".
Jeder Student der Regelungstechnik lernt so was. Wenn ich bei einer solchen Latenz immer wieder auf und zu mache, dann habe ich nicht anderes als einen Schwingkreis. Und je größer die Latenz desto schlimmer ist es.
Da braucht man eine ruhige Hand, damit das System stabil bleibt. Bislang ist selbst in den Ländern, die kaum oder keine Beschränkungen eingeführt haben, kein exponentielles Wachstum eingetreten. Die Pandemie hat sich auch ohne Zutun des Staates irgendwann von selbst statibilisert. Mal hat dies mehr, mal weniger Opfer gefordert. Soziale Verhältnisse, Gesundheitszustand, Zustand des Gesundheitswesens und Altersstruktur scheinen hier auch eine große Rolle zu spielen.
Es wäre daher von je her besser gewesen, sich mehr auf den Schutz besonders gefährdeter Gruppen zu konzentrieren und ansonsten mit angezogener Handbremse durch die Pandemie zu steuern. Aber dazu braucht man halt Leute, die was von Regelungstrechnik verstehen. Oder wenigstens was von Mathematik.