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  • Armin Reich

407 Beiträge seit 09.04.2013

Re: Anarchie == keine Herrscher, Anomie == Halbstarke mit AKs sind Herrscher

Radio Controlled schrieb am 28. Mai 2013 11:40

> Ok dann nenn mir ein paar Beispiele die dauerhaft Herrschaftsfrei
> funktionieren....

Du verstehst das völlig falsch. Es gibt hier keine Prüfung zu
bestehen und auch kein EU-Zertifikat zu ergattern. Die sozialen
Verbände indigener Gemeinschaften sind ein irrsinnig interessanter
Innovationspool. Abgesehen vom Kannibalismus, den jetzt bestimmt
gleich der nächste Stammtisch-Sabbler anführen wird, haben die
unterschiedlichsten Völker die unterschiedlichsten Modelle
entwickelt. 

Ein Beispiel, wie ich das meine jetzt. Französische Forscher haben
bei der Eroberung Amerikas einen Indianerstamm aus dem heutigen
Kanada beschrieben, bei dem durften nur Männer in den Stammesrat
gewählt werden, aber ausschließlich Frauen hatten das Wahlrecht.
Hinterfrag das mal: eine solche Regelung kann ja nur zustande kommen,
wenn in dieser Region seinerzeit genauso intensiv die Frage der
Gleichberechtigung der Frau geführt wurde, wie das heute bei uns der
Fall ist. Das ist in etwa mit deiner Fragestellung vergleichbar, nur
mit einem sozialen Experiment, das heutzutage eher mit Akzeptanz
betrachtet wird, wie der Anarchismus. Nun ist halt die Emanzipation
in der Anthropologie genauso selten angeführt, wie
Herrschaftslosigkeit - aber das ist ja wohl kaum ein Argument
dagegen, das man in dieser Richtung am sozialen Gefüge der Menschen
herumbastelt. Ich verstehe deinen Einwand ganz und gar nicht.

Es ist noch nicht einmal so, das wir Europäer hier viel versäumt
hätten. Derlei Forschungsberichte animierten in europäischen
Philosophenhirnen den Mythos vom "edlen Wilden", flossen damit in die
Geschichte der Demokratisierung Europas ein und wurden damit zu einer
der Keimzellen der Emanzipationsbewegung hier.

Konkret auf deine Frage kann man die San anführen, oder etwas
entfernt auch die Konsens-Politik der Ibo, es gab einige
Karibik-Inseln mit herrschaftsfreier Selbstorganisation, in der
Ukraine gab es sowohl frühe Formen der Anarchie als auch die
Machno-Bewegung zur Revolutionszeit, hier und da ein
nordamerikanischer Indianerstamm zumindest mit teilweiser
Herrschaftsfreiheit und viele anarchosyndikalistische Landkommunen
aus dem spanischen Bürgerkrieg gibt es heute noch. Was bringt es
eigentlich, diese Pipifatz-Kapitel der Menschheitsgeschichte zu
erwähnen? Im Prinzip steht ja da auch die Erkenntnis, das die
Machtposition vieler Stammeshäuptlinge bei weitem nicht so total war,
wie das heute bei Politikern oder Konzernchefs der Fall ist. Manchmal
war das einfach nur ein Zeremonien-Dienstleister und die Leute haben
gemacht, was sie wollten. 

> ?? wo habe ich gesagt das es unbedingt ein Mann sein muss... 
> Und Du schreibst es ja selber, irgendwann bildet sich immer eine
> Herrschaftsstruktur... in diesem Fall halt der Familienvorstand.

Ich mache ja nicht jede Gender-Mode mit - das mit dem "-Innen" finde
ich schon mal Quatsch. Aber eine Formulierung wie "hat einer das
Sagen" kommt mir jedenfalls nicht mehr über die Lippen. Das hat nix
mit erzwungener politischer Korrektheit zu tun, sondern da drückt
meine Einstellung auf die Sprache durch. So sehe ich das auch bei
anderen.

> Gegen das Bestreben spricht nichts, nur zeigt die Praxis halt das es
> nicht funktioniert und sich immer entsprechende Strukturen
> herausbilden.

Dann können wir die Diskussion gleich mal beenden. Bis auf ein paar
Außenseiter sind Anarchisten nämlich nicht Bösewichte, die mit Bomben
die Herrschaftslosigkeit herbeisprengen wollen - wie das SpiegelBild
gerne suggeriert. Das Gros der Leute führt einfach einen
verzweifelten Kampf um Freiräume und Experimentierfelder. Die
"Propaganda der Tat" in Form von Bomben, das war vor über 100 Jahren.
Heutzutage ist damit eher ein Stadtteilprojekt gemeint. Daneben gibt
es noch das "Tagesgeschäft", in den 80ern haben wir das
"Kampagnenpolitik" genannt. Wenn da mal ein Molli fliegt oder ein
Strommast fällt, ist das primär im jeweiligen Kontext zu sehen.

> Was denkst Du denn wie z.B. die grössten Bauwerke entstanden sind,
> sicher nicht weil jeder machen konnte was er wollte sonder weile es
> in diesem Fall halt einen leitenden Bauherr gab.  

Jede Innovation in der Geschichte der Menschheit wurde von Leuten
erbracht, die gemacht haben, was sie wollten. Oder glaubst du von
Leonardo da Vinci bis Einstein hätten die Legionen an Forschern und
Ingenieuren nicht agiert, wenn es keinen Befehl gegeben hätte? Und
sie wurden genau deswegen erbracht, weil diese Leute mit dem Luxus
gesegnet waren, dies tun zu dürfen. Was spricht dagegen, dies auch
allen anderen Beteiligten einer sozialen Gemeinschaft zukommen zu
lassen? Einzig und allein die Volksweisheit, das viele Köche den Brei
verderben?

Zu deinen Großprojekten: das ist ein ziemliches Problem heutzutage,
das derlei Projekte wesentlich mehr an sturen Vorgaben aus dem Hause
einer eindeutigen Hierarchie heraus durchgeführt werden, als dies
früher der Fall war. Wenn heutzutage etwas nicht dem Plan entspricht,
dann ist das eine Katastrophe und alle, die gegen ihn verstoßen,
werden gemaßregelt. Darunter leidet die Redundanz bei Prozessen,
viele Fehler werden nicht korrigiert, sondern bis zum Ende
durchgeschleppt. Am Ende steht dann ein "failed building" wie der
Berliner Großflughafen oder die Elbphilharmonie. Google mal nach dem
Opernhaus in Sydney, das in Hamburg so gerne als Beispiel genannt
wird - *auflach*, wie naheliegend. Ich habe schon in solchen Dingern
gearbeitet.

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