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  • morgen Stern

988 Beiträge seit 03.10.2015

Re: Das bezweifle ich

morgen Stern schrieb am 05.03.2021 22:13 (im Nebenbeitrag):

Meinst du https://keimform.de/2018/kapitalismus-aufheben-bonuskapitel/?

Ich habe jetzt mal den Blogeintrag und die Kommentare, insbesondere die von Werner Richter durchgelesen (nicht jedoch Kapitel oder Buch, um das das Blog eigentlich kreist).

Mir erscheinen die Beiträge von Richter verworren in ihrem Kreisen um das Immergleiche. Das ist nicht ungewöhnlich für Marx-Scholastik, Backhaus' Dialektik der Wertform funktioniert z. B. auch so. Im Gegensatz zu dem m. E. empfehlenswerten Backhaus kann ich bei Richter allerdings nicht erkennen, dass irgendein sachlich triftiger Punkt mit diesem verworrenen Kreisen getroffen wird. Inwieweit er Wolf richtig oder falsch wiedergibt, kann ich nicht beurteilen, ist mir erstmal auch egal, im Kontext hier sind Richters Ausführungen erstmal digital unproblematisch zur Hand, daher das, woran ich mich abarbeite.

Sofern überhaupt eine zentrale Aussage Richters herauszufiltern ist, erscheint sie mir am ehesten in dieser Passage:

„Kapitalinterpreten“ sehen in Gleichsetzung und Abstraktion die Ursachen für Wert und formbestimmte abstrakt menschliche Arbeit, aber nur das Austauschverhältnis, dem die allgemeinen Eigenschaften vorausgesetzt sind, verleiht diesen die gesellschaftlich allgemeine Form (durch Gleichsetzung). Weil dies nicht in ihre Erklärung paßt, werden die ahistorisch gültigen allgemeinen Eigenschaften ignoriert. Deshalb erklären sie den Wert zu spät als Vergegenständlichung einer in der Luft schwebenden abstrakt menschlichen Arbeit. Ohne Rekurs auf die allgemeine Eigenschaft des Arbeitsproduktes bleibt diese „Gegenständlichkeit des Wertes“ unerklärbar, da allgemeine Eigenschaft nicht mehr als ahistorisch gültige Komponente des Wertes erfaßt werden kann.

Der Begriff der "Ahistorizität" wird (in Varianten) aktuell immerhin 21 mal in den Beiträgen Richters gebraucht. Gemeint ist vermutlich so etwas wie eine ewigwährende Bestimmtheit innerhalb der Menschheitsgeschichte (sicherlich nicht z. B. innerhalb der Erdgeschichte, die größtenteils ohne Menschen verlief). Das geht durchaus richtig einerseits auf den physischen Naturstoffwechselprozess qua Arbeit:

Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Warenwert. Alle Arbeit ist andrerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besondrer zweckbestimmter Form, und in dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte.

(MEW23, S. 61 bzw. http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_049.htm#S61)

Und andererseits auf dessen "ewige Notwendigkeit" (die sich allerdings mit der Vorstellung einer vielleicht erreichbaren "Vollautomation" technologisch in der Zukunft unter Umständen überwinden lassen könnte):

In allen Zuständen mußte die Arbeitszeit, welche die Produktion der Lebensmittel kostet, den Menschen interessieren, obgleich nicht gleichmäßig auf verschiedenen Entwicklungsstufen. Endlich, sobald die Menschen in irgendeiner Weise füreinander arbeiten, erhält ihre Arbeit auch eine gesellschaftliche Form.

(MEW23, S.85f. bzw. http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_049.htm#S85)

Komplett falsch allerdings sind Richters Ausführungen darin, abstrakt-allgemeine Arbeit von der gesellschaftlichen Form losgelöst in die ahistorische Ewigkeit verlagern zu wollen und damit einhergehend seine Vorstellung, dass "die allgemeinen Eigenschaften [dem Austauschprozess] vorausgesetzt" seien. Und das scheint mir sein zentraler Punkt zu sein, durch den jedenfalls überhaupt erst verständlich werden kann, warum er Gleichsetzung und Abstraktion im Kontext des (Tausch-)Werts als zwei voneinander unabhängige Aspekte zu diskutieren können meint.

Sein Missverständnis, obgleich er ja über die gesellschaftliche Form des Wertfetischs hinreichend aufgeklärt ist, besteht darin, Denk- und Realabstraktionen unmittelbar ineinssetzen zu wollen. Wenn Marx im ersten obigen Zitat (S. 61) von der "Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit" spricht, ist eine Denkabstraktion gemeint: Wir können im Denken von allen konkreten Eigenschaften menschlicher Tätigkeiten abstrahieren und so zu einem Begriff abstrakt menschlicher Arbeit gelangen (wobei auch dort bereits der Übergang von Tätigkeit zu Arbeit sonderbar wäre). Wenn Marx sagt, dass Arbeit "in" dieser Eigenschaft den Wert bildet, sagt er keineswegs, dass diese gedachte Eigenschaft aller Arbeit den Wert bildet, sondern dass sich die Wertbildung nur über diese Denkabstraktion erschließt. Tatsächlich aber geschieht die gesellschaftliche Wertbildung in der real sich vollziehenden Abstraktion durch den praktischen Austausch völlig unabhängig davon, was die Tauschenden sich dabei so denken. Ohne Austausch wäre kein Wert und die Denkabstraktion "allgemein menschliche Arbeit" würde uns im Zweifel gar nicht interessieren, auch wenn wir sie anstellen könnten.

Marx stellt das völlig klar:

Die Dinge A und B sind hier nicht Waren vor dem Austausch, sondern werden es erst durch denselben. Die erste Weise, worin ein Gebrauchsgegenstand der Möglichkeit nach Tauschwert ist, ist sein Dasein als Nicht-Gebrauchswert, als die unmittelbaren Bedürfnisse seines Besitzers überschießendes Quantum von Gebrauchswert. Dinge sind an und für sich dem Menschen äußerlich und daher veräußerlich. Damit diese Veräußerung wechselseitig, brauchen Menschen nur stillschweigend sich als Privateigentümer jener veräußerlichen Dinge und eben dadurch als voneinander unabhängige Personen gegenüberzutreten. Solch ein Verhältnis wechselseitiger Fremdheit existiert jedoch nicht für die Glieder eines naturwüchsigen Gemeinwesens, habe es nun die Form einer patriarchalischen Familie, einer altindischen Gemeinde, eines Inkastaates usw. Der Warenaustausch beginnt, wo die Gemeinwesen enden, an den Punkten ihres Kontakts mit fremden Gemeinwesen oder Gliedern fremder Gemeinwesen. Sobald Dinge aber einmal im auswärtigen, werden sie auch rückschlagend im innern Gemeinleben zu Waren. Ihr quantitatives Austauschverhältnis ist zunächst ganz zufällig.

(MEW23, S. 102 bzw. http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_099.htm#S102)

Richters Missverständnis lässt sich vielleicht noch einmal so reformulieren: Er meint, dass die Denkabstraktion der Realabstraktion vorausgesetzt sei: Könnten wir nicht im Denken von allen konkreten Eigenschaften aller Arbeiten abstrahieren, so ihm zufolge wohl auch nicht in der gesellschaftlichen Praxis des Tauschs. Sohn-Rethel z. B. vertritt die gegenteilige Auffassung: Erst durch die gesellschaftliche Praxis des Tauschs, vermutet er, wurden die Denkabstraktionen der antiken griechischen Philosophie realgeschichtlich ermöglicht.

Mir erscheint das in beide Richtungen spekulativ, kaum entscheidbar, weil es auf die Frage hinausläuft, inwiefern sich im geselligen Miteinander der Menschen einerseits Denkformen, andererseits gesellschaftliche Verkehrsformen herauskristallisieren. Ich würde vermuten, dass es sich im konkreten geschichtlichen Verlauf um eine höchst verwickelte Dialektik handelt, die, selbst wenn sich das historisch einigermaßen erforschen ließe (was wissen wir z. B. über die Denkformen von Kulturen, die noch keine Zeichensysteme benutzten?), irgendwo letztlich doch zu einer Henne-Ei-Ursprünglichkeit verklumpt.

Marx legt diese Fragen zwar an, wälzt sie aber nicht, sondern entscheidet sich für die materialistische Lesart, der die gesellschaftliche Praxis immer schwerer wiegt als das, was gesellschaftlich so gedacht wird, auch wenn im Einzelnen nicht immer völlig klar ist, inwiefern das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt:

Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.

(MEW23, S. 88 bzw. http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_049.htm#S88)

Ich gebe Richter durchaus darin recht, dass die Entscheidung über die mir spekulativ erscheinende Frage zu Richters Gunsten zu einer anderen Lesart des Kapitals führen müsste. Im Zentrum stünde dann eine Fixierung der gesellschaftlichen Praxis auf eine Denkabstraktion, nicht Wert-Geld-Kapital-Wertverwertung wäre dann der Götze im Fetischbegriff, sondern eine spezifische Form unserer denkenden Abstraktionsfähigkeit. Der kritische Fetischbegriff könnte dann vielleicht sogar wieder affirmativ rückgekoppelt werden an den trinitarischen christlichen Gott, der uns als diese Abstraktion entgegentritt und uns zum fixierenden Gehorsam nötigt. Hat einen gewissen Witz, wäre aber Idealismus und vorkritisch, zudem abseits von Gesellschaft.

Zumindest verstehe ich jetzt, woher die Vorstellung eines Arbeitszeit-Protokollismus auch noch im Verein freier Menschen rührt. Dahinter steht die irrsinnige Vorstellung, dass, nur weil wir auf eine bestimmte Art abstrahieren können, wir das auch immer müssten. "Abstrakt allgemeine Arbeit" würde sich nach dieser Vorstellung auch dann als Denknotwendigkeit in unseren Köpfen finden, wenn es überhaupt keinen Tausch mehr gäbe. Das ist eine psychotische Idee. Nur, weil wir denkend abstrahieren können, müssen wir das nicht. Vielleicht ein Beispiel: Wer relativistische Physik betreibt, ist kein bisschen dazu gezwungen, immer auch an Netwons Physik zu denken, nur weil Newton auch mal ganz hübsche Abstraktionen in die Welt setzte.

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