OberstMeyer schrieb am 05.03.2021 14:28:
Die im Artikel dargestellten Beziehungen sind nicht der VWL zuzuordnen, sondern der "übergeordneten", der jeweiligen Produktionsweisen gegenüber "neutralen" Politischen Ökonomie. Diese vertritt keine spezielle Produktionsweise wie die VWL, sondern versucht, über den Dingen stehend die realen ökonomischen Verhältnisse zu analysieren.
Für eine solche Analyse benötigt man meines Erachtens nach noch etwas, das Marx als Frühgeborenem noch nicht zur Verfügung stand, nämlich - grob gesagt - die Psychologie.
Mit dem heutigen Wissen an Psychologie und Soziologie gepaart mit den Neurowissenschaften als biologisch-informationswissenschaftlichen Beistand kann man Marx' Theorien und insbesondere den viel zitierten 'Wert' durchaus viel weiter begreifen als bloß als Verhältnis von geleisteter Arbeit und Nutzen, geschweige denn Marktpreis.
Das, was Marx als historischen Materialismus bezeichnet, könnte man als spirituelle oder evolutionäre Geschichte betrachten, wenn man Geschichte nicht bloß als Aneinanderreihung von Daten, sondern als eine Art entwicklungspsychologische Analyse der Menschheit betrachtet. Marx war da ganz intuitiv schon auf der richtigen Fährte, aber er konnte es, geprägt vom Zeitalter des Rationalismus, leider nicht anders als rein materialistisch im Sinne von 'Wert' begreifen.
Der Originalposter des Threads hat ja recht, wenn er im Zusammenhang von Wert auch von menschlichen Bedürfnissen spricht, aber was sind das eigentlich für menschliche Bedürfnisse und woher kommen sie? Jeder kennt die Bedürfnispyramide und damit wird klar, dass man auch in der gängigen Produktionsweise weder viel von abstraktem Geldreichtum benötigt, um seine wesentlichen Bedürfnisse zu befriedigen, noch dass manche dieser Grundbedürfnisse auch mit noch so viel Reichtum befriedigt werden können, wie z.B. das Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit oder nach einem tieferen Sinn im Leben.
Die Bestimmung vom Wert einer Ware geschieht immer aus einer psychologischen Bedürfnisstruktur heraus. Das wissen wir auch längst, denn mindestens seit einem Jahrhundert gibt es bereits Werbung zur gezielten Erzeugung ganz spezifischer Bedürfnisse - mit all ihren maximal schädlichen Nebenwirkungen für die Gesellschaft. Wer sich damit beschäftigt, dem wird schnell klar, dass hier stets emotionale Grundbedürfnisse des Menschen materiell und/oder ideell sublimiert werden. In der Warenwirtschaft geht es längst nicht mehr um Dächer über den Köpfen oder Brot auf dem Tisch, sondern fast ausschließlich um Sublimierung von Bedürfnissen, die aus einem emotionalen Mangel heraus entstehen - egal, ob dieser Mangel real ist oder erst durch Werbung suggeriert wird.
Davon ausgehend und die Gedanken erweiternd stellt sich dann natürlich die Frage, woher das Bedürfnis von Investoren nach ständiger und unendlicher Kapitalvermehrung kommt? Aus diesem Bedürfnis heraus investieren Investoren in Unternehmen und Werbung für deren Produkte. Das Bedürfnis allein erklärt natürlich nicht die Intention, und hier scheitern die sogenannten Wirtschaftswissenschaften regelmäßig. Ab einer gewissen Menge an Reichtum handelt es sich in Bezug auf reale Grundbedürfnisse des Menschen nur noch um das Anwachsen einer abstrakten, fiktiven Nummer, respektive um Symbole in einer Welt der Fiktion, wenn auch mit ganz realen (materiellen) Auswirkungen.
Hier findet eine ganz schon schräge Form der Sublimierung statt. Das wird besonders deutlich, wenn man sich den herrschenden Geld- und Kapitalbegriff im kollektiven Bewusstsein der Menschen von außen betrachtet, quasi als außerirdischer Anthropologe. Warum sollte Kapital eigentlich immer anwachsen und Zinsen "erwirtschaften", wie kann Geld "arbeiten" und warum setzen wir alle mehr oder weniger unbewusst voraus, dass jede Tätigkeit und jedes Geschäft einen Gewinn für unsere abstrakte, fiktive Nummer erzeugen muss? Warum muss überhaupt eine Tätigkeit im Austausch ausgeführt werden, um abstrakte, fiktive Nummern gutgeschrieben zu bekommen? Und warum fühlen wir uns als Versager, wenn dieser Gewinn für uns ausbleibt? Warum brandmarken wir andere nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich strukturell als Versager und Faulenzer? Warum behandeln wir sie als Menschen zweiter, dritter oder vierter Klasse, nur weil ihnen dieser Gewinn versagt geblieben ist, weil sie aus welchen Gründen auch immer keine solchen Tätigkeit nachgehen konnten? Andere bekommen fiktive, abstrakte Nummern per Geburt und Erbschaft ohne Gegenleistung doch auch gutgeschrieben.
Meines Erachtens haben wir es mit weit mehr zu tun als bloß mangelnde Mutterliebe oder ähnlichen küchenpsychologischen Erklärungen á la Gier, sondern es handelt sich hier wohl eher um viel grundlegendere Bruchlinien im Bewusstsein der menschlichen Spezies, die sich nur verhaltens- und evolutionsbiologisch und spirituell-philosophisch (für mich ist beides kein Widerspruch, sondern sinnvolle Ergänzung) voll erklären lassen. Dass zu erklären würde den Rahmen eines Forumsbeitrags jetzt sprengen, aber diese Ebene fehlt mir leider bei praktisch allen marxistischen Theorien, die mir bislang so begegnet sind. Du scheinst Dich etwas auszukennen, habe ich da eine übersehen?