Aber die These, wonach der bürgerliche Individualismus[10] im Sozialismus/Kommunismus durch einen Kollektivismus überwunden werde, ist eine Vorstellung, die Marx und Engels nach meiner Auffassung kaum weniger heftig kritisiert hätten. Denn es ging ihnen in ihren Aussagen zum Kommunismus gerade nicht darum, die Gesellschaft oder Gemeinschaft – das Kollektiv – gegen die Individuen – oder auch umgekehrt – auszuspielen, vielmehr versuchten sie, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Kommunismus als einer gegenüber der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft höher entwickelten Formation historisch-praktisch und begrifflich neu zu bestimmen und zwar derart, dass darin der abstrakte Gegensatz beider Pole dialektisch, im Sinne von ‘aufgehoben’, überwunden wird.[11]
Marx und Engels waren in keiner Weise – weder weltanschaulich noch methodisch oder normativ[12] – Individualisten[13], schon gar keine ‘Besitzindividualisten’ wie die politischen Philosophen und Ökonomen des 17. und 18. Jh.[14] Aber sie waren ebenso wenig Kollektivisten, wie es zumeist von radikalen Gegnern des Marxismus behauptet wird. Dabei stützen letztere sich gelegentlich auch auf Äußerungen von Autoren aus den ehemaligen ‘realsozialistischen’ Ländern, u.a. auch aus der DDR, die sich bei der These vom Primat der Kollektivität im Kommunismus aber keineswegs auf Marx oder Engels berufen können.[15]
Was Marx’ Begriff des Kommunismus gegenüber diesen einseitigen, sich wechselseitig ausschließenden Interpretationen auszeichnet, ist die gleichzeitige und gleichgewichtige Verbindung von freier Assoziation und freier Individualität. Die Individuen können sich als isolierte Individuen nicht wirklich befreien, da sie als solche stets in feindlicher, konkurrierender – oder um den Philosophen verständlicher zu bleiben in ´entfremdeter´ – Abhängigkeit von einander, also im ´Krieg aller gegen Alle´ (Hobbes) und damit letztlich in Unfreiheit verbleiben. Wirklich frei werden sie demnach nur in der Assoziation, der freiwilligen Vereinigung mit anderen Individuen, in der die unterschiedlichen Individualitäten sich wechselseitig betätigen und in dieser Tätigkeit zugleich entfalten können. Dies ist das Grundthema und das Endziel von Marx Untersuchungen der Geschichte progressiver Gesellschaftsformationen.
Aus:
‘Kommunismus’ – ein falsch verstandener Begriff?
Überlegungen zur Dialektik von Individualität und Kollektivität bei Marx (Teil I)
Werner Goldschmidt
http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/1135.kommunismus-ein-falsch-verstandener-begriff.html