Endlich mal ein Artikel, der sich auf nüchterne Weise mit dem Thema Lebenserwartung beschäftigt. Die Hauptaussage bezüglich des theoretischen Maximalalters scheint mir recht plausibel begründet. Was mir fehlt, ist ein Hinweis auf die ideologische Funktion, die das Konzept Lebenserwartung in den westlich-kapitalistischen Gesellschaften hat. Der regelmässige Hinweis auf die weitere Zunahme der Lebenserwartung ist stets verbunden mit dem Lob des technologischen Fortschritts, namentlich des medizinischen, und dient generell als Beweis für die Überlegenheit des eigenen gegenüber anderen Systemen. Kapitalismus verlängert das Leben aller! Entsprechend peinlich wirkt es, wenn der Wert stagniert, wie aktuell in den usa. Ich will nicht in Abrede stellen, dass medizinische Fortschritte auf manchen Feldern einen gewissen lebensverlängernden Einfluss haben - zumindest statistisch gesehen. Aber es lässt sich belegen, dass die grossen Sprünge aus der Lebenserwartungsdepression früherer Zeiten (nicht aller im gleichen Masse) vor den grossen medizinischen Fortschritten einsetzten. Entscheidend scheint die psychosoziale Verfassung zu sein. Wer sich keine bzw. wenige existentielle Sorgen machen muss, lebt tendenziell länger, dazu kommen ein intaktes Beziehungsgeflecht und halbwegs gesundheitsverträgliche Lebensweise. Die Voraussetzungen dafür haben in vielen Ländern für mehr oder weniger grosse Bevölkerungsteile in den letzten Jahrzehnten wieder abgenommen, daher die zunehmenden Amplituden (Börsianer würden von Arbitrage reden). Dagegen kommt der medizinische Fortschritt nicht an, schon gar nicht der heutige.