Ansicht umschalten
Avatar von
  • unbekannter Benutzer

212 Beiträge seit 11.01.2002

off topic: Analyse der Spiegel-Titelgeschichte zu Al-Qaida

In Ermangelung eines aktuellen Telepolis-Artikels zum Thema poste ich
meine Anmerkungen zum Spiegel-Artikel hier.

SPIEGEL-Titelgeschichte 48/2003: „Der fromme Weltkrieg“ vom 24.11.03

--(Kommentare von mir)

Mit den vier Anschlägen von Istanbul wollen die Anhänger von Osama
Bin Laden ihre ungebrochene Schlagkraft beweisen.  Während
US-Präsident George W. Bush als Antwort auf die Terrorkampagne zu
verstärktem militärischem Einsatz aufruft, wachsen die Zweifel an
dessen Wirksamkeit. (...) Ein veritabler Weltkrieg ist das, den die
frommen Krieger Allahs inzwischen auf fast allen Kontinenten führen.

--(Handelt es sich bei den „frommen Kriegern“ wirklich um eine
homogene Gruppe, oder vielleicht um unabhängige Organisationen mit
ganz unterschiedlichen Interessen?)

(...) Dass die Türkei ins Visier des internationalen islamistischen
Terrors rücken würde, war wohl nur eine Frage der Zeit. Auch Istanbul
ist ein Symbol. Es ist die Geschäftsmetropole der laizistischen
Türkei, die der Nato angehört, Aufnahme in die Europäische Union
sucht und an einem entspannten Verhältnis zu Amerika interessiert
ist.

--(Das Verhältnis ist jedoch alles andere als entspannt. Die Türkei
behinderte die USA während des Irak-Kriegs massiv. Es gibt starke
Konflikte bezüglich des türkischen Interesses an der Schwächung der
irakischen Kurden. Die Lage ist komplexer, als Türkei an der Seite
der USA hier, islamische Terroristen dort.)

(...) Der erste der beiden Doppelanschläge binnen einer Woche hatte
sich gegen Juden in Istanbul gerichtet - und gegen die guten
diplomatischen Beziehungen zwischen Ankara und Jerusalem.

--(Diese waren schon vor den Anschlägen belastet. Israel ist sowohl
irritiert, dass Ankara sich nicht in die Irak-Kriegskoalition
einreihte, als auch von der intensiven Arabien-Diplomatie der Türken.
In der Türkei wiederum sind die Rüstungsaufträge an israelische
Firmen heftig umstritten. Diese schwelenden Konflikte werden mit
Verweis auf den gemeinsamen Feind Al-Qaida eher verdeckt.)

(...) Als Katalysator für die blutige Intensität der jüngsten
Terroroffensive hat sich der Krieg im Irak erwiesen. Anstatt den
Terrorismus einzudämmen, haben die Regierungschefs George W. Bush und
Tony Blair ihm neue Jünger zugeführt, die ihr Leben geben, um
„Symbole der Ungläubigen“ in die Luft zu jagen - und mit ihnen so
viele Menschen wie möglich. Die beiden westlichen Staatenführer
tragen dafür nicht die Verantwortung, aber sie müssen mit den Folgen
fertig werden.

--(Zuerst heißt es: „Bush und Blair haben dem Terrorismus neue Jünger
zugeführt.“, dann: „Die beiden tragen dafür nicht die Verantwortung.“
Merkwürdig.)

Denn in diesem Krieg ist die Supermacht Amerika noch immer der
ultimative Feind, weil sie nach ihrem Willen und ihrer Vorstellung
den Nahen Osten nach dem 11. September neu zu ordnen versucht.
Präsident Bush malte in London am Tag vor den Anschlägen von Istanbul
das Bild vom anderen, blühenden Nahen Osten, der dank seiner
„vorwärts gewandten Strategie der Freiheit“ aus den Trümmern der
Gegenwart aufsteigen werde. Für den islamischen Fundamentalismus
liegt darin eine tödliche Drohung, auf die er mit blutigen Anschlägen
antwortet.

--(Worin liegt die „tödliche Drohung“: in der Neuordnung des Nahen
Ostens, oder in der „vorwärts gewandten Strategie der Freiheit“? Oder
ist beides dasselbe? Es klingt eben so schön niederträchtig, wenn
Terroristen sich durch eine „Strategie der Freiheit“ bedroht fühlen,
wohingegen es nachvollziehbar anmuten würde, dass die Neuordnung
durch eine Supermacht sie bedroht.)

(...) Bereits einen Tag nach der neuen Katastrophe von Istanbul
konnte die Polizei eine heiße Spur präsentieren: Bei den Tätern
handle es sich sehr wahrscheinlich um zwei junge Türken namens Azad
Ekinci und Feridun Ugurlu, die bei den Anschlägen vom Samstag zuvor
in Erscheinung getreten waren. (...) Dass die Killer Kontakt zur
Terrororganisation al-Qaida hatten, schließen die türkischen
Ermittler aus der Tatsache, dass sie noch am 28. Oktober in die
Vereinigten Arabischen Emirate gereist waren. Auf enge Verbindungen
zu Bin Ladens Terrororganisation deutet auch der Bekenneranruf hin,
der am Donnerstagnachmittag bei der staatlichen Nachrichtenagentur
Anadolu einging. Der Anrufer nannte als Verantwortliche die „Abu
Hafis al-Masri-Brigaden“. Abu Hafis ist der Kriegsname des Ägypters
Mohammed Atif, des ehemaligen Militärchefs der Qaida. Er war während
des Afghanistan-Kriegs im November 2001 von den Amerikanern getötet
worden. Der Bekennerbrief erklärte: „Wir haben uns die britischen
Interessen in der Türkei zum Angriffsziel genommen, um den Engländern
zu schaden, die sich mit dem Islam im Krieg befinden.“

--(Das sind also die beiden Belege für die Verstrickung von Al-Qaida:
1. Die Täter sind einige Wochen vor der Tat in die Vereinigten
Arabischen Emirate gereist. 2. Ein Bekenneranruf bei der Presse nennt
als Verantwortliche eine Gruppe, die nach dem Al-Qaida-Militärchef
benannt ist. Wie der Spiegel jedoch am 17.11. meldete, ist selbst in
Washington noch unklar, ob diese Gruppe überhaupt existiert und ob
sie wirklich Beziehungen zu Al-Qaida hat.)

(...) Eine türkische Islamistentruppe, „Front der Vorkämpfer für
einen großen islamischen Osten“ (IBDA), war ebenfalls schnell mit
einer Selbstbezichtigung bei der Hand. Schon kurz nach den Anschlägen
auf die beiden Synagogen hatte ein Anrufer bei Anadolu die Tat für
die Organisation reklamiert. Die Kämpfer der IBDA mussten freilich
erleben, dass niemand ihnen eine solche Aktion zutrauen wollte. Bei
ihrem Bekenneranruf zu den Anschlägen auf das britische Konsulat und
die HSBC-Zentrale am Donnerstag hatten die Vorkämpfer dazugelernt.
Jetzt bezeichneten sie die Attentate von Anfang an als gemeinsame
Aktion mit al-Qaida und konnten somit sicher sein, dass das
Qaida-Bekenntnis ihren Ruhm nicht etwa schmälern, sondern eher
steigern würde. Der IBDA-Anrufer kündigte weitere Anschläge an.

--(Al-Qaida wird also im Bekenneranruf genannt, weil die Täter sich
sonst nicht ernstgenommen fühlen. Eine sich selbst erfüllende
Prophezeiung: Man traut einer Gruppe die Attentate nur zu, wenn sie
zugibt, mit Al-Qaida in Verbindung zu stehen. Diese Verbindung glaubt
man ihr jedoch sofort.)

(...) Die scheinbar unaufhaltsame Terroroffensive belegt einmal mehr,
dass al-Qaida trotz der weltweiten Jagd auf ihre Mitglieder noch
immer die erfolgreichste Terrororganisation ist, unter welcher die
Welt je zu leiden hatte. Von Südostasien bis Australien über Europa
bis Amerika - jeder Anschlag, egal wo, lässt die Menschen fürchten,
lenkt Tourismusströme um und lässt die Börsen in den Keller rauschen.
„Der Terror“, schreibt der amerikanische Soziologe Benjamin Barber,
„erzielt seine Erfolge mehr mit dem, was er androht, als mit dem, was
er tatsächlich ausführt.“ Bin Laden hat die Globalisierung der Angst
perfektioniert. Al-Qaida ist zur Ideologie geworden, zum Synonym für
den Dschihad, den heiligen Krieg gegen den Westen.

--(Das Schlüsselwort Al-Qaida steht also nicht mehr nur für die
Organisation, sondern auch für eine „Ideologie“. Bleibt die Frage,
wann im Artikel was damit gemeint ist. Mal die konkrete Gruppe, dann
wieder das „Synonym für den Dschihad“? Wie kann man einem Synonym
eine Tat nachweisen?)

Dabei, da sind sich die Geheimdienste einig, ist es nicht Bin Laden
persönlich, der Anschläge wie die in Istanbul in Auftrag gibt. Aus
Sorge vor Entdeckung meidet er das Telefon. Nur per Kurier werden von
Zeit zu Zeit Botschaften übermittelt. Bin Laden, so sieht es der
Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Ernst Uhrlau, „ist heute ein
spiritueller Führer in einer fast ikonenhaften Position. Aber die
Aktivitäten sind von ihm abgekoppelt“.

--(Er ist aber dennoch für alle verantwortlich? Als geistiger Führer?
Oder grosser Satan?)

(...) Und selbst wenn Bin Laden - wie etwa für die Täter von Istanbul
- nur als befeuernder Mythos wirkt: Der Schaden, den seine Adepten
anrichten, ist unübersehbar. (...)

--(Natürlich, nur hat das dann eben nicht mehr viel mit einer
Organisation „Al-Qaida“ zu tun. Indem man die Ideologie genauso
nennt, vermeidet man zwar aufwändige Differenzierungen bezüglich der
Täterschaft, aber um genau die geht es doch.)

--(FAZIT: Die Titelgeschichte des Spiegel ist in ihrer Kernthese
„Terroroffensive von Al-Qaida“ undifferenziert, an vielen Stellen,
die die These belegen sollen, unausgewogen und teilweise
widersprüchlich. Die Autoren bedienen sich in der Hauptsache eines
Mittels, das oft sogenannten Verschwörungstheoretikern vorgeworfen
wird: der groben Vereinfachung und dem Verweis auf eine diffuse
Organisation, die für alles verantwortlich sei. Investigativer
Journalismus geht anders.)
Bewerten
- +
Ansicht umschalten