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  • Mrothyr

mehr als 1000 Beiträge seit 01.06.2001

Re (I)

demokratie schrieb am 18. September 2006 17:03

> Es
> gibt doch auch Erfolge im Kampf gegen die Ideologie des
> Neoliberalismus.

Du wirfst hier schon wieder mit einem ideologisch besetzten Begriff
rum, der von unterschiedlichen Leuten unterschiedlich interpretiert
wird. Der heutige Kampfbegriff "neoliberal" ist leider
wirklichkeitsverzerrend, weil der Wirtschaftsliberalismus
amerikanischer Prägung älter ist als der Neoliberalismus selbst.
Wikipedia mal nachlesen - die ursprüngliche "soziale Marktwirtschaft"
ist ein direktes Ergebnis der neoliberalen Ideen.

Eben die Nutzung dieses Kampfbegriffes ohne realen Inhalt, worunter
alle möglichen mißliebigen Entwicklungen subsummiert werden
(inklusive Entwicklungen, die gar nicht in den Komplex des
Wirtschaftsliberalismus fallen) macht es so schwer, argumentativ
gegen diese Entwicklungen anzugehen.

> Siehe Frankreich(zumindest eine gewonnene
> Schlacht....aber eben nur eine),

Was denn da? Ich sehe da nichts.

> in Venezuela, in Bolivien(solange
> die beiden sich gegen den CIA behaupten können) und evtl. bald auch
> in Mexico (ist noch in der Schwebe).

Da bin ich gespannt. Solange die erste Welt den Wirkungen der irrigen
Idee des entnationalisierten WIrtschaftsliberalismus mit
nationalstaatlichen Regularien begegnet, statt die
Verantwortungslosigkeit des fluchtfähigen Kapitals zu bekämpfen, wird
sich auch in den von dir benannten Ländern mittelfristig eine
passende Eigentumsverlagerung zu den bekannten Konzernen ergeben.

> Sicher nicht zufällig. Der Kippeffekt wird sorgsam vermieden. Ich
> denke alle hier kennen das Beispiel mit dem Frosch und dem langsamen
> erhitzen.

Jo. Aber irgendwann ist der Frosch tot. Oder anders gesagt: Ein
Arbeitnehmer ohne Arbeit und damit ohne Konsumkapital ist für den
Binnenmarkt tot. "Markt" ist ein Kreislaufsystem - und die
Betrachtung von Absatzmärkten getrennt von Produktionsstandorten ist
einer der größten Irrtümer der betriebswirtschaftlichen Lehre, die
anscheinend heutzutage auch die Mainstream-Volkswirtschaftler erfaßt
hat. Die sogenannte Binnenmarktschwäche in Deutschland sollte
eigentlich ein Warnzeichen dahingehend sein, daß der "größte
Absatzmarkt Europas" an einem kritischen Ausblutungseffekt im
Hinblick auf das im Markt vorhandene verkonsumierbare Kapital leidet.
Und nein, die Spareinlagen sind da kein Anhaltspunkt, da die
durchschnittliche Sparerquote nicht die Verteilung dieser EInlagen
widerspiegelt.

Es ist mir unverständlich, warum der Kurs trotzdem weiterverfolgt
wird - vermutlich, weil eine nationalstaatliche Lösung NICHT MEHR
MÖGLICH ist. Der Markt ist weitgehend monopolbestimmt, der Staat und
seien Regularien sind entmachtet - entweder im Rahmen der EWG oder
durch den erpresserischen Einfluß der Lobbys.

> Das ist jetzt etwas widersprüchlich finde ich. Einerseits schreibst
> du das es keinen massenhaften gesellschaftlichen Abstieg gibt, aber
> du bemerkst das der Mittelstand ausdünnt.

"Ausdünnen" war genauso gemeint. In jeder Schicht gibt es permanente
Fluktuationen, an den Schnittstellen erfolgt ein Austausch, ebenso
wie im Rahmen der permanenten Erneuerung der Bevölkerung. Der
Mittelstand dünnt aus - nicht weil dessen Vertreter massenhaft ab-
oder aufsteigen (die Rate wird sich nicht wesentlich verändert
haben), sondern weil der Nachwuchs fehlt. Die Geburtenraten sind
(frag mich jetzt nicht nach Quellen, ich gebe nur den allgemeinen
Eindruck wieder, den ich gewonnen hab) speziell im Mittelstand
gering, in dieser Schicht ist der Anteil kinderloser oder
Ein-Kind-Familien ebenso wie der Anteil an Singles besonders groß.
Das Arbeitspensum zum Erhalt des sozialen Status ist besonders groß.
Symptomatisch ist zum Beispiel, daß die Nachfolgeproblematik vieler
Klein- und Mittelständler ungelöst ist. Ergo: Der Mittelstand dünnt
aus, weil der Anteil an der gesamtgesellschaftlichen Basis geringer
wird.

Ein anderer Aspekt ist, daß diese Geselllschaft simpel
mittelstandsfeindlich ist. Die Steuergesetzgebung konzentriert sich
primär darauf, die nicht fluchtfähigen Einkommen zu belasten - dies
sind hauptsächlich Mittelstandseinkommen. Die politischen Kräfte üben
sich in Lobbyismus und sehen den Mittelstand (bzw. das Bürgertum, um
mal einen nicht ganz wirtschaftsbezgenen Begriff zu benutzen) vor
allem als opportunistisch geprägtes Wählerpotential, das man
instrumentalisieren kann. Die Schicht wird im Allgemeinen als
rückwärtsgewand und standesbezogen bewertet. Und für den Aufbau einer
funktionsfähigen Lobby ist diese Schicht zu wenig homogen. Politisch
wird diese Schicht zwischen den Arbeitnehmern und dem Großkapital
zerrieben - bemerkbar schon daran, daß der Mittelstand im Normalfall
unter Arbeitgeber mit subsummiert wird (erstaunlich insofern, daß
viele der Großverdiener, gegen die heutzutage seitens der
Arbeitnehmervertreter agiert wird, selbst Arbeitnehmer mit besonders
gut dotierten Verträgen sind - oder was meint man denn, was
Geschäftsführerverträge im Allgemeinen sind?).

> Der "Mittelstand" ist ja
> nun mal die breiteste gesellschaftliche Schicht in Deutschland, also
> kann man schon von einem massenhaften gesellschaftlichen Abstieg
> reden.

Nur, wenn die Leute "in persona" absteigen. Dies ist aber meist nicht
der Fall - die Bezeichnung "Mittelstand" ist vielfach fremdgeprägt,
die einschlägigen Personen sind vielfach nicht bessergestellt als das
"Proletariat". Eher schlechter, da ihre soziale Absicherung fehlt und
sie im Falle des Scheiterns direkt auf 0 fallen.

> Nur geht der eben nicht schlagartig vor sich, sondern
> schrittweise. Ein Sprung in die "oberen Schichten" ist eher das
> Märchen mit denen der Mittelstand bei der Stange gehalten wird.

Ach nein. Es ist heute wesentlich sinnvoller (wenn man die
Bevölkerung in zwei gegensätzliche Schichten aufteilen will), von
fluchtfähigem und nicht fluchtfähigem Kapital zu reden. Die
Fluchtfähigkeit des Kapitals wird, entgegen allen Beteuerungen der
Regierung, immer mehr gefördert, die einschlägige Eigentumsgrenze
immer mehr abgesenkt. Das betrifft Produktivkapital ebenso wie
liquide Mittel oder Passivkapital. Übrig bleiben als
nichtfluchtfähige Bevölkerungsteile Arbeitnehmer (mit deutlicher
Gewichtung auf geringqualifiziert) und nahe dem Markt agierende
Kleinunternehmen (also das Handwerk, die "Krauter"). Letztere stellen
zwar die meisten Arbeitsplätze, leiden aber auch an der
Binnenmarktschwäche am Meisten, weil sie wiederum mit dem vorhandenen
Konsumkapital auskommen und nicht auf andere Märkte ausweichen können
- was wiederum direkten EInfluß auf die Einkommen und Arbeitsplätze
entwickelt. Denn der sich daraus ergebende Rationalisierungszwang
(der Supportbereich ist üblicherweise der personalintensivste
Bereich, im gegensatz zur Produktion liegt der Lohnanteil dort meist
bei > 90%) führt zur Konzentration und damit der Annäherung an die
Fluchtgrenze - also die Grenze, wo eine Unternehmensverlagerung und
der sich daraus ergebende organisatorische Aufwand Sinn macht. Meist
geht dies dann auch mit einer Unternehmenswandlung (von
Personengesellschaft zur Kapitalgesellschaft) einher.

> Ach naja. Warst du mal selber auf den Montagsdemos?

Ja, einmal. Und ich hab mich nicht getraut, dort offen zu erkennen zu
geben, daß ich einer der bösen "Unternehmer" bin. Was man anscheinend
in den entsprechenden Kreisen nicht begriffen hat: Aufgrund der
mikroökonomischen Abhängigkeit, die KLeinunternehmer und ihre
Arbeitnehmer gegenseitig entwickeln, sitzen beide im selben Boot.
Problematisch ist Hartz IV vor allem wegen der VERARMUNG ganzer
regionen - was sich direkt auf die lokalen Unternehmen auswirkt.
Markt ist vor allem ein Kreislaufsystem.

> Sicher waren da
> auch Linke, aber es waren doch hauptsächlich Betroffene. Das "Linke"
> und "Betroffene" eine Schnittmenge bilden ist sicher etwas was es zu
> beobachten gilt.

Daß sie nicht übereinanderpassen ist logisch. Nur gibt es eine klare
Tendenz, im alte marxsche Thesen vom Klassenkampf zu verfallen und so
die dazwischenstehende Gruppe, den Mittelstand, speziell den lokal
orientierten Mittelstand, dabei zu zerreiben. Statt ihn als
Unterstützer zu gewinnen.

> Das liegt aber an der Art und Weise wie hier Protest gelebt wird.

Unbestritten. Es gibt aber andere Formen des protestes - Baderringe,
Regionalwährungen, etc. pp. Demos sind etwas für Leute, die aufgrund
ihrer Probleme zu viel Zeit haben.

> Die Menschen müssen erst einmal wieder lernen, das eine Demonstration
> eben eine 'Demonstration der Macht" sind.

Ja genau. Mit umgestürzten Autos und brennenden Barrikaden. Trifft
genau die Richtigen. Oder vielleicht doch nicht?

> Denkt an Frankreich! Haben die nach einer Demo klein beigegeben? Man
> muss so lange die 'Macht demonstrieren' bis sie nachgeben und nicht
> nur demonstrieren um  eine Zeitungsmeldung zu bewirken. So hat das
> noch nie funktioniert.

Ich weiß immer noch nicht, wo du in Frankreich Erfolge findest. Die
EU geht gesammelt den wirtschaftsliberalen Weg - mit Frankreich und
Deutschland an der Spitze. Die "Erfolge", die ich in Frankreich
erkennen kann, passen eher in das Schema "divide et impera".

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