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  • Mrothyr

mehr als 1000 Beiträge seit 01.06.2001

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demokratie schrieb am 28. September 2006 16:33

> Also ich definiere Polizeistaat so: Ein Staat in dem die Polizei ohne
> jede Regel oder nach eigenen Spielregeln schalten und walten kann wie
> es ihr beliebt. Ganz soweit sind wir noch nicht, aber auf dem besten
> Weg dorthin.

Ich habe im Rahmen des Massen-Gentests in DD bei einem Freund etwas
erlebt, das durchaus so klingt wie das, was du grad als noch nicht
gegeben siehst. Der Massengentest unterlag definierten gesetzlichen
Bedingungen und Vorschriften - er hat sich unter Berufung auf genau
diese Vorschriften geweigert, daran teilzunehmen. In der dritten
Eskalationsrunde, die schon verdächtig nach Staatsterror aussah
(nette Herren in Zivil mit Ausweis) wurden ihm, statt daß seinem
Auskunftsersuchen (zum Beispiel nach Offenlegung des betreffenden
Urteils) nachgekommen wurde, ziemlich einschneidende Maßnahmen
angedroht. Nicht s von Dokumentationspflicht, nichts von
Verfahrensbezogenheit der Maßnahme, nichts von Urteilstext betreffs
der Merkmalsoffenlegung, nichts von Unabhängigkeit der den Gentest
durchführender Institution von der ermittelnden Behörde. Verzeih mir,
daß ich bei solchen Erlebnissen NICHT mehr an die Gebundenheit der
Exekutive glaube. Bei aller Entrüstung betreffs der Vergewaltigung
eines elfjährigen Mädchens: Der Staat setzt mit seinen gesetzen die
Rahmenbedingungen und GERADE in einem solchen Fall, bei einem derart
tiefen EIngriff in die allgemeinen Bürgerrechte sollte sich die
Exekutive sehr gesetzeskonform verhalten und sich nicht der
Rechtsbeugung verdächtig machen (leider existieren für die letzte
Eskalationsstufe keine schriftlichen Materialien).

> Aber ist es nicht das was du selber einforderst (keine Gnade bei
> "Kleindelikten")?

Nein, ist es nicht. Da ich von einem resozialisierenden und nicht
einem strafenden Vollzugssystem ausgehe - was bedeutet, daß dort eher
psychologische Betreuung als der Strafvollzug in Frage kommt. Denn,
wie gesagt, ich halte die Kleindelikte NICHT für strafwürdig, sondern
eher für krankhaftes Verhalten. Zumindest in einer gesunden
Konsens-Gesellschaft.

> Ich denke aus dieser Verachtung resultiert bei vielen jungen Menschen
> wiederum ihre Verachtung von allem öffentlichen Eigentum. Weil sie
> sich ausgeklammert fühlen von selbigem.

Nicht nur für öffentliches Eigentum. Für Eigentum allgemein. Da sie
keine Chance sehen, teilzuhaben, nehmen sie sich, was sie wollen. Ist
in meinen AUgen sogar nachvollziehbar - und in dieser kranken
Gesellschaft auch nicht als soziopathisch zu sehen. Schließlich nimmt
sich die Elite unserer Gesellschaft auch, was sie kriegen kann - ohne
soziale Rücksichten.

> Ich weiß nicht. Vielleicht sollte man eher den Aspekt des Eigentums
> langsam aber sicher zurück drängen.

Durchaus. In meinen AUgen gehört die Leistung mindestens gleich
behandelt. Daß wir einen Eigentumsschutz im GG haben, aber keinen
gleichwertigen Leistungsbezug, ist für mich eines der größten
Ägernisse des GG.

> Die Aufgabe der Polizei bzw. der Exekutive sollte ausschließlich die
> Ahndung des Verstoßes gegen den gesellschaftlichen Konsens( in diesem
> Fall unsere Gesetzgebung) sein und nicht dessen Verhinderung. Die
> Verhinderung ist zwar ein schöner Gedanke, hat sich aber nicht
> bewährt wie man an der aktuellen politischen Entwicklung erkennen
> kann.

Oh, ich sehe es schon als sinnhaft an, daß die Exekutive einen
Schutzauftrag hat. Dieser sollte aber PASSIVEN Charakter behalten.
Aufklärung, die Bereitstellung von Schutzzonen (für mich sind zum
Beispiel Frauenhäuser keine rein soziale Einrichtung, sondern haben
auch einen rechtspflegerischen Aspekt).

> Der ehemalige(?) New Yorker Bürgermeister Rudolph
> Giuliani war ein typischer Vertreter der Law and Order-Fraktion. Er
> gilt weltweit als Vorbild dieses Ansatzes. Er hat ja gerade das, was
> du auch einforderst, durchgezogen. Keine Bagatelldelikte mehr, jedes
> übertreten von regeln oder Gesetzten wurde hart geahndet.

Du hast den Finger schon drauf: Es wurde geahndet. Ich bin immer noch
für Verbrechensprävention im Rahmen des resozialisierenden Ansatzes.
Giuliani hat abgeschreckt, er hat dei Big-Brother-Masche durchgezogen
mit dem Hintergrund: Wir kriegen euch alle - und dann machen wir euch
in unseren Camps fertig. Die Frage, WARUM solche Delikte überhaupt
auftraten, wurde nicht gestellt.

> Wozu hat es
> geführt? Massive Kameraüberwachung, die Armen und Drogenabhängigen
> sind in die Vororte verdrängt worden, massive Polizeipräsens und
> Polizeiwillkür. Das ist der Preis den man für das zurückdrängen der
> "Trivialisierung" zahlen muss. Der New Yorker Polizeichef (während
> der Zeit von R. Giuliani...Name muss ich schuldig bleiben) hat einmal
> in einem Interview gesagt das "Law and Order" Unsinn sei und das ein
> vernünftiges Sozialsystem seiner Meinung nach die beste Art der
> Verbrechensbekämpfung sei.

Da stimme ich mit ihm überein - denn dann gibt es die Taten nciht
mehr, die "geahndet" werden müssen, dann gibt es nur noch Täter, die
THERAPIERT werden müssen.

> Ich finde du solltest deine Position da noch einmal überdenken.

Nein. Du denkst zu stark segmentiert. Du siehst in dem Ansatz,
Trivialdelikte zu verfolgen, grundsätzlich einen diktatorischen
Ansatz. Wir stimmen sicher darin überein, daß das massenhafte
AUftreten von Trivial-Straftaten (Diebstahl, Raub, Überfälle,
Vandalismus etc. pp.) primär ein soziales Problem ist. Das heißt, es
muß SOZIAL gelöst werden. Man kann sich aber nicht hinsetzen und mit
den Schultern zucken, solche Taten plötzlich als "nicht mehr
strafwürdig" definieren und so die _gesellschaftliche Ächtung_ dieser
Taten hintertreiben. Jemand, der einen Ladendiebstahl begeht,
schädigt den Ladeninhaber. Das mag im Einzelfall ein Kleindelikt sein
und nicht so schlimm wirken - aber es straffrei zu stellen, es zu
dulden ist ein Weg in die falsche Richtung, weil es dem Täter
signalisiert, daß es sozialkonformes Verhalten ist.

Ich will nicht Giulianis Überwachungsreich, ich will keine
Strafverfolgung nach amerikanischen Muster - ich sehe es als
notwendig an, die Gesellschaft auf einen Stand zu bringen, wo
Trivialstraftaten nicht mehr als sozialkonform angesehen werden. Und
die paar leute, die solche Taten begehen, sich möglichst freiwillig,
notfalls aber auch zwangsweise in Therapie begeben. Dies werden aber
EINZELFÄLLE sein, die keine Kameraverfolgung notwendig machen werden,
sondern eher ein gutgeschultes psychologisches Team.

Giulianis Ansatz ist falsch. Er nimmt die Trivialdelikte als
gottgegeben hin und verfolgt sie STRAFEND. Die extreme Technisierung
der Polizei in dem Zusammenhang folgt daraus, daß die Delikte
zumindest regional SOZIALKONFORM sind, gesellschaftlich weitgehend
goutiert wirden (Bandenkriminalität et cetera). Da ist nichts mehr
mit therapieren, dort müssen den Anwohnern Perspektiven außerhalb der
Bandenkarriere geboten werden. Dazu war Giuliani nicht fähig, dazu
ist das amerikanische Rechtssystem nicht fähig (strafender statt
resozialisierender Ansatz).

Nochmal: Ich empfinde es als falsch, Trivialdelikte hinzunehmend und
straffrei zu stellen - das legalisiert diese weitgehend. Trotzdem bin
ich sicher kein Vertreter des "Law & Order", sondern lehne speziell
das "Order" weitgehend ab. Trivialdelikte zu verfolgen heißt aber
NICHT ZWANGSWEISE, sie zu bestrafen. Sie zu verfolgen, sie zu
vermindern, kann auch ein präventiver gesellschaftlicher Annsatz sein
(Sozialgemeisnchaft).

> Ja sicher, aber genau da sehe ich auch das Problem. Wie du ja selber
> schreibst, hat bei uns das Eigentum eine bessere juristische
> Untermauerung wie Menschen- und Freiheitsrechte. Das ist ein Umstand
> den ich einfach unakzeptabel finde. Er sagt viel aus über unsere
> Gesellschaft, über unsere Werte und unsere Ernsthaftigkeit. Nach
> außen werden Freiheits- und Menschenrechte als die höchsten Werte
> propagiert und nach Innen wird Ihnen das Eigentum vor die Nase
> gestellt.

Ja - und nun? Der Eigentumsbegriff ist Grundlage des gesamten
Wirtschaftssystems. Den können wir nicht einfach umkippen. Wenn wir
anfangen wollen, die Sache auf vernünftige Füße zu stellen, ohne daß
wir diese Gesellschaft komplett zertören udn mit Gewalt eine neue
Ordnung etablieren, müssen wir die Sozialbindung des Eigentums wieder
stärken.

> Leider hat mich Latein meine "Gymnasialkarriere" gekostet ;) Was
> heißt das auf Deutsch?

Mit der gewaltsamen Vernichtung bedrohen (im Wortsinn: Mit Feuer und
Schwert bedrohen).

Oder anders gesagt: wenn der Konsens zwischen Kapitaleignern und
Abhängigen in dieser Gesellschaft nicht wieder hergestellt wird, wenn
der Sozialbindung des Eigentums nicht wieder Geltung verschafft wird,
dann muß das halt durch Gewalt durchgesetzt werden (ergo:
Bürgerkrieg).

CU

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