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mehr als 1000 Beiträge seit 10.01.2003

Also wenn ich so heute ein Jugendlicher wäre ...

... mit Einser-Abi in der Tasche, mit vielleicht sogar richtig Ahnung von dem, was ich kann und was ich will (also ein Hobby, was sich auch im Erwerbsleben nutzen lässt beispielsweise), dann weiß ich mit Sicherheit eins: ich will was machen, was mir Spaß macht und auch noch Geld auf's Konto spült.

Nun schreibe ich hier mit 40 Lebensjahren an Erfahrung. Als Jugendlicher hat man andere Flausen im Kopf. Mein Schwager ist gut 15 Jahre jünger als ich, den kenne ich aber schon seit 12 Jahren, also die ganze Pupertät über. Der hat inzwischen eine fertige Ausbildung als Bankkaufmann, hat aber relativ kurz nur bei einer Bank gearbeitet, bis er des Gewissens wegen nicht mehr wollte. Aktuell macht er noch eine Ausbildung als Verwaltungsfachwirt für den öffentlichen Dienst. Also auch nix "produktives" in dem Sinne, aber zumindest hofft er, alten Menschen keine Kreditverträge mehr andrehen zu müssen. Sei's drum. Und bevor er überhaupt irgendeine Lehre angefangen hatte, schwankte er zwischen Polizist, Bundeswehrsoldat, Elektroniker, Informatiker und Gaming-Influencer ... einfach die breite Palette.

Der ist zwar gewiss nicht repräsentativ für alle Jugendliche, doch ich kann mir gut vorstellen, dass viele am Ende der Schule sich erst überhaupt Gedanken machen, was sie mal später machen wollen. Da rangieren leider, so der Eindruck, die Bullshitjobs ganz weit oben: viel Geld, wenig tatsächliche Arbeit. Gut, fairerweise sei gesagt, dass ich auch keine Lust auf Baugewerbe und Handwerk habe und mich ganz gut in der Elektronikbranche beschäftigt halten kann, das ist nicht so körperlich anstrengend.
Ganz abgeschlagen dürften also Jobs sein, die wenig Bezahlung, wenig Anerkennung und viel, viel (körperliche) Arbeit, Schichterei, Nachtschichten, Wochenendschichten usw. versprechen. Und das ist ein Problem: die Arbeit muss ja trotzdem einer machen, doch bei solchen Eckdaten will das kaum noch jemand.

Der Vorschlag zur aller Güte wäre ja, die hässlicheren Attribute solcher Jobs zurücknehmen. Da schau ich mal in den Pflegebereich und fordere deutlich weniger Arbeitsbelasttung der einzelnen Pflegekräfte. Also besserer Personalschlüssel, mehr Stationskräfte, weniger Patienten pro Pflegekraft und eben zwei garantierte Wochenenden im Monat ohne irgendwelche Haken. Also soll heißen: Samstag und Sonntag sind frei und der Freitag davor ist keine Nachtschicht, welche in den Samstag hinein reicht. Dazu auch ein Maximum von 8 Arbeitstagen am Stück, danach müssen drei freie Tage gewährt werden, wieder ohne Verkürzung durch ungünstig gelegene Nachtschichten. Auch die 24-Stunden-Schichten bzw. Doppelschichten gehören abgeschafft.
Es geht also mitnichten nur um Lohn und Gehalt, sondern auch das Arbeitsumfeld bzw. die Eckdaten eines Jobs!

Bei den Fachkräften in der Gastronomie wird ebenso ein hartes Regime gefahren wie auf einer Baustelle. Auch hier ist die Arbeitslast gemessen an der Entlohnung einfach zu groß, die Arbeitszeiten ggf. ungünstig. Auf dem Bau steht man eben bei Wind und Wetter draußen und in der Gastronomie steht man in der Küche oder hinter der Theke, wenn andere Feierabend machen oder im Urlaub sind. Angemessen vergütet werden solche Unannehmlichkeiten nicht.

Beim "Gender-Pay-Gap" geht es - auch wenn der im Grunde eine Flunkerei ist - um die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen. Da werden allerdings Vollzeit-Ingenieure mit Teilzeit-Einzelhandelskauffrauen verglichen, um die Schere aufklappen zu lassen, aber eine Wahrheit ist und bleibt da trotzdem drin: klassische Frauenberufe werden schlecht bezahlt. Die Aldi-Frau, die Putzfrau, die Erzieherin ... oft sind die Jobs eben einfach deutlich schlechter entlohnt als (fachlich ähnliche) klassische Männerberufe. Entsprechend schwierig ist es dann mit der Attraktivität dieser Jobs, wenn schonmal eine Hälfte der potentiellen Lehrlinge "keinen Bock" drauf hat.
Interessanterweise gilt das aber in beide Richtungen: die besser bezahlten "typischen Männerberufe" sind meistens tatsächlich arm an Frauen. Warum fehlt es an Mechatronikerinnen, an Elektronikerinnen, an Technikerinnen und Ingenieurinnen? Sicher nicht, weil die Uni-Mathematik so schwierig ist. Fehlendes Interesse? Sind die Jobs nicht sexy genug oder gelten sie als frauenfeindlich?

Und dann haben wir ja noch die richtigen No-Go-Jobs. Fernfahrer, Maurer, Klempner, Elektriker? Alles irgendwo machbar. Die sind zwar schlecht bezahlt, aber immerhin sind es keine Jobs mit schlechtem Ansehen. Aber wer will heute bitteschön Metzger werden, wer will die angelieferten "Lebenden Tiere" töten und anschließend zerlegen? Ich esse zwar gern mein Steak, aber das liebe Rindvieh vorher schlachten kann ich nicht - und das ist KEIN Argument für Vegetarismus, denn die wenigsten Autofahrer können ihr Auto auch selber reparieren oder Straßen teeren! Der Metzger als Handwerksberuf hat in unserer vegetarisch-hippen Zeit keinen guten Ruf. Bei der Partnerwahl dürfte sowas auch nicht hilfreich sein, wenn man "was mit Tieren macht" und sich am Ende als Metzger outet.
Ähnliche Nachteile gibt's vermutlich bei Bestattern, bei der Tierkörperbeseitigung (Bauhofmitarbeiter etc), Müllabfuhr usw usf. Es gibt Jobs, die müssen gemacht werden, die aber sich auf keiner Visitenkarte gut machen. Da wird kaum ein Jugendlicher, der frisch von der Schule fällt, "hier rufen".

Ob ein Beruf angesehen ist oder nicht ist eine Frage der Gesellschaft. Und mit ein wenig positiveren Blick auf bestimmte Jobs könnte man sicherlich auch mehr Jugendlichhe begeistern für solche Arbeiten, bei denen gerade Mangel herrscht. Man könnte in jedem Falle das Geschlechterthema anfassen, weil es ja in einigen asiatischen Staaten auch zu funktionieren scheint, jedenfalls gibt es deutlich mehr Frauen in technischen Berufen, ganz ohne Quote!
Vielleicht schafft man es auch, die "Ladenhüter" wieder attraktiver zu machen, einfach, indem das Ansehen dieser Arbeitsplätze wieder steigt.
Ich fürchte nur, in Deutschland wird das wiedermal nichts werden. Zwar sind wir eine Gesellschaft im Land, die allen Arbeitslosen Faulheit und Drückebergerei unterstellt, gleichzeitig betrachten wir mehrheitlich die Erwerbsarbeit als unangenehme, lästige Strafe, um unsere Lebenszeit zu stehlen. Wenn's uns Arbeitenden nicht gut geht, dann neiden wir dem Arbeitslosen seine "freie Zeit" noch, auch wenn er sonst nicht viel hat. Kein schönes Bild unserer Gesellschaft, was ich hier zeichne. Und ja, auch das hat Einfluss darauf, ob und wie sich Jugendliche am Ende entscheiden.

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