Die Frage wurde im Artikel bereits angedeutet, doch leider nicht befriedigend beantwortet. Zudem ist der Reichtumsbegriff ein relativer, denn für einen in Armut (ebenfalls ein relativer Begriff) Lebenden ist schon ein Mensch, der über 1000 Euro pro Monat verdient, reich, wo er selbst immer wieder am Hungertuch nagt. Für Menschen, die in Dritte-Welt-Ländern leben, bedeutet Reichtum vermutlich, ausreichend zu Essen zu haben – laut Welthungerhilfe betrifft das derzeit 821 Millionen Menschen:
https://www.welthungerhilfe.de/hunger/
Zieht man die Vermögen der Multimillionäre und -milliardäre in den im Artikel dargestellten Vergleich mit ein, sind all die genannten Einkommens-Bezieher nicht wirklich als reich, sondern eher als wohlhabend zu bezeichnen. Im Vergleich mit den Multimilliardären müßten alle, die »nur« über Millionen Euro oder Dollar verfügen, als (relativ) arm bezeichnet werden.
Daraus folgt der Schluß, daß Angaben zum Netto-Einkommen nicht wirklich das Verhältnis zwischen Reichtum und Armut bechreiben, sondern eher davon ablenken, das wahre Ausmaß der Ungleichheit zu erkennen. Um über »handfeste« Zahlenverhältnisse verfügen zu können, wird bereits im Vorfeld manipuliert, indem man mehr oder weniger willkürlich eine Armuts- und Reichtumsschwelle festlegt (Armutsschwelle in Europa bei 60% des Medianeinkommens = 1026 Euro monatlich).
Ich selbst habe keine 900 Euro monatlich zur Verfügung, mir bleiben monatlich zum Leben – für Lebensmittel und was man sonst noch so braucht – nach Abzug aller Fixkosten keine 200 Euro übrig; ich liege damit also weit unterhalb der Armutsgrenze, und das macht sich bemerkbar: Ich kann mir z.B. keinen Zahnersatz leisten, wodurch meine Verdauung zunehmend schlechter wird und Magen- und Darmprobleme gehäuft auftreten. Ich kann auch keine Wohnungsrenovierung (neue Tapeten und weißeln) bezahlen, worunter ich aber nicht wirklich leide. Neue Klamotten kaufen – davon träume ich nur. Bücher kaufen? Zum Glück habe ich die Landesbibliothek um die Ecke. Und zum Glück gibt's die Tafeln, die ich derzeit aus mehreren Gründen aber nicht aufsuchen kann (Fahrrad kaputt, kein Geld für Reparatur; wegen Corona derzeit keine Toilette bei den Tafeln verfügbar; man kann dort nicht mehr sitzend warten, weil Warteraum wegen Corona geschlossen; man muß auch im Freien in der Warteschlange Maske tragen, wobei mir schwindlig wird usw.). Und dennoch lebe ich noch immer, wenn auch mit gesundheitlichen Einschränkungen.
Armut – aus einer anderen Perspektive betrachtet – ist meiner Überzeugung nach nicht allein am materiellen Wohlstand zu messen. Ganz im Gegenteil könnte man viele heute im materiallen Wohlstand lebende Menschen als geistig und emotional arm bezeichnen, gerade weil sie ständig dem Wohlstand und der Erhöhung ihres Einkommens nachjagen und dabei ihre eigene Psyche zum eigenen Nachteil manipulieren und unterdrücken (lassen) – was man als zunehmende Entfremdung vom eigenen Selbst, vom eigenen Gefühlsleben überall auf der Welt beobachten kann. Diese Abkehr von sich selbst hin zu einer künstlichen Persönlichkeit wird auch als Narzißmus bezeichnet. Der Narzißt ist genau deshalb, weil er keine inneren Bestätigungen für sein Handeln erhält – denn vom eigentlichen (biologischen) Selbst ist er weitgehend abgeschnitten –, ständig auf Bestätigungen von außen angewiesen, um sein Ersatz-Selbst halten zu können. Der Narzißt sucht zu gefallen, sucht nach Beifall und Zustimmung, egal von wem, verhält sich daher im großen und ganzen opportun – hängt sein Fähnchen nach dem Wind – und ist nicht wirklich bindungs- und beziehungsfähig.
Wir leben in einer narzißtischen Gesellschaft, wie nicht erst Hans-Joachim Maaz herausgefunden hat. In einer narzißtischen Gesellschaft werden zwar pro Forma noch immer gewisse einstige Tugenden hochgehalten, doch wenn's drauf ankommt, zählt nur der Mammon. Kaum ein Einzelhändler würde einem armen Kunden, der an der Kasse feststellt, nicht genügend Geld zu haben, um die Einkäufe zu bezahlen, den Rest umsonst überlassen. Firmen suchen die Einkünfte ihrer Angestellen zu drücken, wo immer das möglich ist, im Bundestag wird regelmäßig um Centbeträge gefeilscht, die man den Hartz-IV-Beziehern vorenthalten müsse, wobei gleichzeitig regelmäßige Diätenerhöhungen dafür sorgen, daß die Abgeordneten finanziell sehr gut versorgt werden.
Ohne die physische, geistige und emotionale Energie, die täglich von Milliarden Menschen in das Gesamtsystem der kapitalistischen Ausbeutung, der räuberischen Land- und Ressourcennahme und des unmenschlichen Umgangs miteinander (strukturelle Gewalt) investiert wird, würde das System unweigerlich zusammenbrechen; das scheint kaum jemand erkennen zu können, geschweige denn begreifen zu wollen. Meiner Beobachtung nach liegt das unter anderem daran, daß die meisten Menschen nicht gewohnt und vor allem nicht gewillt sind, sich selbst kritisch zu betrachten und zu bewerten. Im Gegenteil, der weitverbreitete Narzißmus sorgt bei fast allen heute lebenden Dividuen (= das Geteilte, Individuum ist das Ungeteilte) dafür, daß sie sich selber quasi schönreden und -denken (euphemisieren): jeder sucht in den eigenen und in den Augen anderer der Beste, der Größte, Stärkste etc. zu sein; kaum jemand erträgt Kritik oder kann damit gar konstruktiv umgehen. Wir wurden alle zum Gehorsam gegenüber gesellschaftlich und politisch anerkannten Autoritäten erzogen; wer sich erstmals dagegen zu wenden versucht, erlebt gewöhnlich Schuld- und Panikgefühle, die ihn vom weiteren Vordringen in diese Richtung abhalten.
Sehr anschaulich wird dieser letztgenannte Umstand in den Experimenten von Stanley Milgram deutlich:
»... Ich habe selbst eine Heidenangst vor Schocks, und ich könnte Menschen, die dagegen protestieren, keine Schocks verabreichen, weil ja ich es wäre, der ihnen den Schmerz zufügt. Ich könnte einem mir vollkommen Fremden nicht absichtlich weh tun.« (Maximum: 90 Volt)
»Ich kann nicht glauben, daß irgendein Experiment es wert ist, einem Mitmenschen einen starken Schock zuzufügen. Die Tatsache, daß die Versuchsperson so reagierte, zeigte mir, daß sie an heftigen Beschwerden litt. Ich könnte nicht derjenige sein, der diese Schmerzen zufügt. In dem Augenblick, in dem der Betroffene darauf besteht, das Experiment abzubrechen, respektiere ich seine Entscheidung.« (Maximum: 135 Volt)
»... Ich kann es nicht ertragen, wenn ich sehe, daß Leute leiden. Wenn der Schüler ausscheiden will, dann würde ich ihn befreien, um ihm nicht Schmerzen zuzufügen.« (Maximum: 150 Volt)
»... da der Versuchsteilnehmer sich freiwillig bereit erklärt hat und da ich mich freiwillig bereit erklärt habe und da der Versuchsleiter keine körperliche Gewalt über mich besitzt, sollte der andere Versuchsteilnehmer befreit werden, wenn er den Punkt erreicht, wo er darum bittet, und ich würde ihn befreien.« (Maximum: 150 Volt)
»Der Grund, warum ich abbrechen würde, ist, daß die Person vor Schmerzen schreit. Da ich weiß, wie es mir geht, wenn ich mir bloß die Haut am Knie aufschürfe, würde ich dann mit dem Schüler Mitgefühl haben.« (Maximum: 180 Volt)
Diese Befragten glaubten, ihre Reaktionen würden von ihrem Einfühlungsvermögen, von ihrem Mitgefühl und ihrem Gerechtigkeitssinn abhängen. Sie stellten ein Konzept des Wünschenswerten auf und nahmen an, darauf werde die entsprechende Handlung folgen. Damit bewiesen sie jedoch wenig Verständnis für die Verflechtung der Kräfte, die in einer tatsächlichen sozialen Situation wirksam werden.
Längst bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß wir so lange mit diesem althergebrachten System der Gehorsams- und Unterwerfungserziehung, der gegenseitigen Ausbeutung, der kapitalistischen Mehrwertabschöpfung, des räuberischen Umgangs miteinander und damit der Unmenschlichkeit verbringen müssen, bis eine gewisse Schwellen-Anzahl der Menschen erreicht ist, die sich innerlich und äußerlich davon befreit haben. Anders ausgedrückt: So lange der Mensch nicht begreift, wie er funktioniert, vor allem, wie seine Psyche arbeitet und wie er manipuliert wird, so lange wird sich nichts wesentlich an den Zuständen ändern.
Zu Milgram: http://www.irwish.de/Site/Texte2c.htm
Empfohlene Literatur: http://www.irwish.de/Site/Literatur.htm
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