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  • knarr

mehr als 1000 Beiträge seit 14.05.2007

Re: Die Frage nach dem Schmerz

Emrymer schrieb am 01.04.2021 10:20:

Ich bitte zunächst um Entschuldigung für die späte Antwort - ich bin gerade auch körperlich mitten im Thema, aber es wird wenigstens schon wieder besser...

Was Schmerz ist, ist eine interessante Frage.
Man kann sich ihr von einer, ich sage mal: zellulären Seite nähern. Schon bewegliche Einzeller zeigen ein "Vermeidungsverhalten" gegenüber Umständen, die für sie schädlich sind. Sie nehmen sie wahr, und "sie wollen weg" - aber liegt dazwischen "Schmerz" oder zumindest "Unbehagen"? Ein "ja" ist in meinen Augen reiner Anthropomorphismus: so stellen wir uns das eben vor. Aber ein "nein" wäre in meinen Augen in keiner Weise zu rechtfertigen, dazu ist die Ähnlichkeit dann doch eben zu augenfällig. Es muß irgendetwas dazwischen sein. Etwas von den vielen Dingen dieser erstaunlichen Welt, das zu groß ist für unsere kleinen Köpfe.

Andererseits kann bei einer Massage ein momentaner Schmerz etwas durchaus willkommenes sein, weil er ein Zeichen ist, daß sich Verspannungen lösen. Schmerz ist also keineswegs durchweg negativ konnotiert. (Allerdings sollte man bei positiven Konnotationen von Schmerz immer sehr vorsichtig bleiben...)

Der "Normalfall" ist jedenfalls schon, daß Schmerz schlecht ist und nicht sein soll.
Die mir geläufige "medizinische" Vermutung ist, daß es ihn gibt, weil ein Wesen, daß imstande ist, sich zu bewegen und seinen Zustand zu ändern, wissen muß, wenn es sich in eine ungünstige Richtung bewegt bzw. seinen Zustand in eine ungünstige Lage bringt - Schmerz ist also der Hinweis auf Änderungsbedarf.

Hier eingehakt wäre Raum zu schaffen für die menschliche Urteilskraft zur Selbstmedikation als zehnte in den bisher insgesamt neun von Herrn Müller identifizierten verschiedenen Verhaltenskomplexen, wo sich schon nachweislich gezeigt hat, dass Menschen selektiv psychoaktive Drogen konsumieren, um ihre Verhaltenseffizienz zu verbessern.

Schmerzen spielen bei der Betrachtung der psychologischen und neurobiologischen Mechanismen der Drogeninstrumentalisierung durch Herrn Müller eine Nebenrolle...

Das funktioniert zunächst auf der rein körperlichen Ebene (das ist heiß, ich muß meinen Finger da zurückziehen; das tut weh, ich soll mein gebrochenes Bein nicht belasten...), aber auch auf der psychosozialen Ebene: es geht mir in meinem Kontakt zu dieser Person nicht gut, ich muß da vorsichtig sein; ein Treffen mit diesem da schmerzt, ich sollte es vermeiden (oder Heilung suchen)...

... thematisiert wird in besagtem Artikel nämlich die Angst, aber nicht ihre psychosomatischen Auswirkungen auf den Menschen:
> https://www.heise.de/tp/features/Die-Droge-als-Instrument-4615372.html?seite=all

Was die Reduktion des Schmerzes auf die körperliche Ebene angeht, ist sie mE eher eine Folge der derzeitigen Reduktion des Menschen auf seine Funktion als anonymes Rädchen im Getriebe. Der rein körperliche Teil ist dann eben der, auf den noch am leichtesten "normiert" werden kann und der medikamentös zugänglich ist. Also wird das gemacht.

Daß der Mensch mehr ist und daß diese Herangehensweise insofern dem Wortsinn nach "un-menschlich" ist... da sind wir uns vermutlich einig?

Ja. Danke für Ihre anregende Antwort, wünsche wohlbefindliche Ostertage!

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