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mehr als 1000 Beiträge seit 30.06.2001

mangelnde Trennschärfe vielerorten

Der Hauptgrund für viele Probleme der Menschheit, inclusive
Antisemitismus, ist die mangelnde Trennschärfe beim Denken. Die
meisten Menschen neigen dazu, lieber alles grob in Schubladen
einzuteilen und in oberflächlich gemeinsamen Merkmalen ihre
Vorurteile bestätigt zu sehen, als gezielt auf Details zu achten und
Einzelfälle präzise zu betrachten.

Man sieht derartige Fehler aber nicht nur auf der Seite der Rechten,
bei denen das Schubladendenken oft Programm zu sein scheint, sondern
auch auf Seiten der Linken. Wo auf der rechten Seite meist eher der
Wille als die Fähigkeit zur Trennung zu fehlen scheint, wo die
Rechten oft bewußt Vorurteile schüren, nützt oft auf der Linken der
gute Wille nichts, wenn linke Aktivisten nicht in der Lage sind, ihr
eigenes reflexhaftes schematisches Denken zu erkennen und zu
überwinden. Dieser Mechanismus wird momentan nirgendwo so deutlich
wie am Beispiel Israels:

Während viele Rechte gezielt die Grenzen zwischen 1) berechtigter
Kritik an der Politik Israels, speziell angesichts des Konflikts mit
den Palästinensern, 2) Zweifeln am Existenzrecht des Staates Israel
und 3) Antisemitismus in verschiedenster Form zu verwischen suchen,
ist es bei vielen Linken so, daß sie als fortgesetzte Reaktion auf
den Holocaust die Fähigkeit verloren bzw. gar nicht entwickelt haben,
diese drei Phänomene zu unterscheiden. Letzteres ist auch für
zahlreiche Spaltungen innerhalb der Linken, etwa zwischen
Antideutschen und Antiimperialisten, verantwortlich.

So schwer das auch ist angesichts dessen, was unsere eigenen
Großeltern oder Urgroßeltern, teilweise bei einigen hier Anwesenden
vielleicht sogar noch Eltern, an Schuld auf sich geladen haben, und
angesichts des Leids, das Menschen jüdischer Herkunft in der
Geschichte immer wieder haben erdulden müssen, wovon der Holocaust
nur der bisherige (und hoffentlich auch ewige) Höhepunkt des
Schreckens war, sollten wir dennoch versuchen, den Konflikt zwischen
Israelis und Palästinensern nüchtern zu betrachten. Das Vorgehen der
Sicherheitsorgane des Staates Israel gegenüber Palästinensern ist oft
extrem brutal, und die radikalen jüdischen Siedler sind auf einem
üblen, letztendlich rassistischen Auserwähltes-Volk-Trip, aber auf
der anderen Seite sind radikale Palästinenser oft kein Stück besser,
Opfern etwa als Selbstmordattentäter in ihrer Verblendung ihr eigenes
Leben, um völlig harmlose israelische Zivilisten in den Tod zu
reißen. Hier gebiert Haß auf der einen Seite neuen Haß auf der
anderen und umgekehrt, und viele Kinder auf beiden Seiten müssen in
einer Atmosphäre aus Angst und Haß aufwachsen, die ihre Seelen
verkrüppelt. Einfache politische Lösungen werden hier nicht viel
bringen, eine wirkliche Lösung des Konflikts muß auch eine
spirituelle Komponente haben, einen Willen zum Frieden aus tiefster
Seele und eine Bereitschaft, die eigenen vernarbten Seelen zu heilen
und auch den alten Feinden dabei zu helfen.

Sollten Palästinenser und Israelis es schaffen, einen ernsthaften
Friedensprozeß in Gang zu bringen, wonach es angesichts der
israelischen Mauer ganz und gar nicht aussieht, wird es immer noch
meiner Einschätzung nach mindestens 50 Jahre bis zu einem stabilen
Frieden dauern, wenn es keine weiteren Störungen gibt. Wir können von
hier aus nichts weiter tun, als die Menschen, die den Frieden wollen,
die bereit sind, den Haß zu überwinden, die keine Angst vor dem
Anderen haben, zu unterstützen, das ist alles. Dazu müssen wir jedoch
alle Arten von einseitigen Parteinahmen aufgeben.

Zurück zum ursprünglichen Thema: Eine Sache am Schubladendenken ist,
daß man oft Einzelfälle, die nicht wirklich in die Schublade passen,
ignoriert, während man solche, die hineinzupassen scheinen, sofort
hineinwirft.
Ich kann mich selbst nicht komplett von derartigen Schubladen
freisprechen, es geht oft einfach nicht anders, weil man nur eine
begrenzte Anzahl an Menschen wirklich so gut kennen kann, daß man sie
als Individuum wahrnimmt, das dürften so zwischen 100 und 300
Personen sein. Alles, was darüber hinausgeht, nimmt man mehr oder
weniger schematisch wahr, je nachdem, wieviel man von diesen Personen
mitbekommt. Ich persönlich habe z.B. eine Schublade "Medienfresse",
wo Leute hineinkommen, die oft in den Medien präsent sind und mir
ansonsten eher wenig sagen. In dieser Schublade finden sich
beispielsweise Michel Friedman und Alfred Biolek, und beide sind mir,
obwohl ich nicht viel über sie weiß, instinktiv unsympathisch. Nun
ist es schon eine gewisse kreative Leistung meinerseits, daß ich mir
neue Schubladen ausdenke - viele andere Leute, auch solche, die sich
selbst gar nicht als Antisemiten wahrnehmen, hätten Friedman in die
Schublade "Jude" gepackt. Wenn er diesen Leuten nun ebenso
unsympathisch ist wie mir, dann haben sie, speziell dann, wenn sie
sonst nicht viele Juden kennen, eine unbewußte Verknüpfung zwischen
"Jude" und "unsympatisch" geschaffen. Bei mir könnte es vielleicht
sein, daß ich eine gewisse Verknüpfung zwischen "unsympathisch" und
"Medienfresse" bilde, wozu das von mir gewählte Wort ja auch schon
einlädt, aber da es sich um eine von mir geschaffene Kategorie
handelt, die historisch nicht vorbelastet ist, sehe ich sie als wenig
gefährlich an.

Irgendwann werde ich wohl auch meine eigenen Schubladen
dekonstruieren müssen, aber dann muß ich neue bauen, weil ich nicht
die nötige Hirnleistung habe, auf schematisches Denken völlig zu
verzichten. Man sollte sich dieses Denken auf jeden Fall immer mal
wieder bewußt machen und dann ebenso bewußt darüber hinausdenken.
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