Noch selten hat ein Telepolis-Artikel seinen Rahmen derart gesprengt wie dieser Text von Andreas Wehr. Was als Buchrezension startet, endet als Darstellung dessen, was Wehr für den linken Weg vorwärts für einen krisengeschüttelten Globus hält. Buchformat wäre angezeigt, zumindest das Splitten in mehrere Teile. In einem Kommentar diesem Text gerecht zu werden und dazu noch Streecks Buch ist völlig unmöglich.
Beide, Streeck wie Wehr zeigen wichtige Aspekte auf, weisen auf relevante Zusammenhänge, blenden aber auch einiges aus.
Überzeugend fällt sein Plädoyer für den Erhalt des Nationalstaats aus: "Nur ein souveräner Nationalstaat kann die Grenzen sichern, die für eine Zerlegung der unregierbaren Komplexität einer globalen Markt- und Konzernwirtschaft in beherrschbare Unterteilungen nötig sind. Und nur nationalstaatlich souverän begrenzte Gesellschaften können demokratisch organisiert und dadurch in der Lage sein, einen kollektiven, für alle Bürger geltenden politischen Willen hervorzubringen und mit legitimer Autorität durchzusetzen (…). " (438)
Da muss man Wehr allerdings widersprechen, die Überzeugungskraft der Streeck'schen Argumentation lässt hier zu wünschen übrig. 'Souveräne Nationalstaaten' gibt es im vollen Wortsinn nicht. Der Grad an 'Souveränität' ist sehr unterschiedlich, strebt in vielen Fällen eher gegen Null und erreicht nur in wenigen wirklich einen hohen Grad. Mit der Prämisse fällt die daraus folgende Behauptung in sich zusammen.
Zu den hoffnungsvollen Ansätzen einer anderen Globalisierung gehört auch die Einrichtung der G20, die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer.
Eine seltsame Behauptung, denn auch die G20 ist ein adhoc-Verein, mit ebenso schwacher Legitimationsbasis wie die G7. Der Unterschied ist relativ, nicht kategorial.
Der Kalte Krieg endete mit dem nahezu vollständigen Triumph des "Westens". Dieser Sieg des Imperialismus wäre sogar vollständig und damit total ausgefallen, hätte im April 1989 auch auf dem Pekinger Tian'anmen Platz die sogenannte "Demokratiebewegung" Erfolg gehabt.
Um den Fussballwaisen Matthäus zu zitieren: "Wäre wäre Fahrradkette. Von einer Demokratiebwegung im eigentlichen Wortsinn kann keine Rede sein, vielmehr handelt es sich um eine versuchte farbige Revolution, avant la lettre. Diese von aussen alimentierten Aktivisten hatten nie auch nur die geringste Chance, die Herrschaft der KPC zu erschüttern. Tian'anmen war vielmehr der erste Hinweis auf die Beschränktheit des bürgerlich-kapitalistischen Sieges, der sich mehr der Denaturierung der Gegenseite als eignen Verdiensten verdankt und einen hohen Preis verlangt hat. Die daraus erwachsene Hybris, die in den Neunzigern folgende Zeit des Deliriums leitete all die geostrategischen Fehlentscheidungen ein, deren stückweises Scheitern wir, zuletzt in Afghanistan erleben.
Angesichts dieser ernüchternden Erfahrungen schreckte man schließlich vor einer offenen Invasion in Syrien zurück.
Auch diese Aussage ist ein Beleg dafür, dass Wehr von westlicher Arroganz affiziert ist. Nicht Erfahrungen liessen von einer Invasion Syriens absehen, sondern die unmissverständliche Drohung Putins, es dann militärisch mit Russland zu tun zu bekommen.
Aber zurück zu Streeck. Seine Duodezherrlichkeit hat durchaus einiges für sich. Nur kleine politische Einheiten können die Verfolgung hegemonialer Wahnfantasien einschränken. Imperialismus würde deutlich schwieriger, wenn es z. B. auf dem nordamerikanischen Kontinent 50 politische Einheiten gäbe, statt zwei. Was Streeck allerdings auszublenden scheint - es sei denn Wehr hätte das unterschlagen - ist der Umstand, dass es sehr viele regionale, kontinentale, globale Problemfelder gibt. Die Klimaerhitzungsprolematik kann nicht im Rahmen eines Kleinstaates angegangen werden, um ein naheliegendes Beispiel zu nennen. Was es braucht ist daher die Überwindung des Nationalstaates zugunsten einer komplexen politischen Zwiebelschalenstruktur, in der jedes Problemfeld auf dem ihm adäquaten Niveau behandelt wird. Das reicht vom Quartier bis zum gesamten Globus mit vielleicht einem Dutzend verschiedenen Zwischenstufen.
Die politische Strukturierung müsste völlig neu gedacht werden, ein Rückgriff aufs aus den vergangenen Jahrhunderten Bekannte, wie es sowohl Streeck als auch Wehr auf je ihre Weise versuchen reicht nicht.