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  • dr.cheeba

mehr als 1000 Beiträge seit 08.07.2002

Der mündige Bürger denkt und diskutiert

K. Dierichs schrieb am 6. April 2003 22:17

> Das wäre schön, aber funktioniert so nicht. Ich glaube es ist
> Augenwischerei zu meinen, dass die Gesellschaft (weltweit) jedwede
> Meinungsverschiedenheit auf dem Wege der Verhandlung lösen könnte.

Unter wirklich zivilisierten Menschen geht das. Das scheitert nur
deswegen, weil sich Leute einmischen, die den Frieden gar nicht als
Ideal betrachten.

> Wie gesagt, die letzten 50+ Jahre hätte man das Gefühl haben können,
> dass 'die Welt' vernünftig geworden ist, aber dass dies mit
> Sicherheit nicht so ist, sollte wirklich bald jedem klar sein.

Mittlerweile glauben die Kriegsherren  schon wieder, das Volk mit
Geschichten a la "ab 5.45 wird zurückgeschossen" verarschen zu
können.

Da erdreisten sich die Bushleute sogar, ernsthaft eine Kooperation
zwischen Hussein und Al Kaida als reale Bedrohung darzustellen.
Hussein "könnte" jederzeit Massenvernichtungswaffen an diese
Terroristen weitergeben, Konjunktiv! Damit hat Bush das Gegenteil
dessen suggeriert, was der eigene Auslandsgeheimdienst, also die CIA,
in dieser Sache eingeschätzt hat, daß so eine Kooperation nämlich
äußerst unwahrscheinlich wäre und höchstens durch einen Angriff auf
den Irak begünstigt werden könnte.

"Ich werde propagandistischen Anlaß zur Auslösung des Krieges geben,
gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach
gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Bei Beginn und
Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an, sondern auf den
Sieg..." In Anbetracht von Kriegsankündigungsreden hätten diese Worte
auch kürzlich im Oval Office gesprochen worden sein können.
Tatsächlich wurden sie aber im August 1939 auf dem Obersalzberg von
einem anderen Staatsoberhaupt gesprochen, den manche Leute
frecherweise gerne mit George W. Bush vergleichen.

Bushs Propagandakonstruktion mit den Terroristen war noch ein kleines
Zugeständnis an schließlich nicht ganz auszuschließende gedankliche
Reflektion der Regierungstöne bei den Untertanen. Denn ohne
Terroristen hätte Saddam Hussein, selbst wenn er tatsächlich noch
ausreichend Massenvernichtungswaffen besitzen würde, mangels
Langstreckenraketen die USA unmöglich bedrohen können. Und seit dem
11.9.2001 muß doch nun wirklich jeder Amerikaner, jeder patriotische,
treue brave Untertan zumindest, begriffen haben, daß Terroristen voll
gefährlich sind! Jedenfalls diese suspekten Araber. Wegen Oklahoma
hat's gereicht, einen einzelnen Typen hinzurichten. Da kann man
leider keinen Krieg führen, da müßten sich die USA ja selber
bombardieren. 

Daß Terroristen am 11.9. ganz ohne Massenvernichtungswaffen, sondern
mit stinknormalen Passagierflugzeugen angegriffen haben, mit Hilfe
von Teppichmessern entführt - tja... Dabei waren es sogar
US-amerikanische Maschinen für Inlandsflüge, und die mutmaßlichen
Terroristen haben für ihre Tat in den USA trainiert, nach der
üblichen Version der Vorgeschichte. Bloß nicht zu lange drüber
nachdenken, sonst könnte ja die absolute Blödsinnigkeit der
US-Kriegspropaganda offenbar werden.

> Daher sollten wir froh sein, dass es mit den Amerikaners noch einen
> bellizistischen Apparat gibt, der (noch) halbwegs unsere Werte teilt
> - denn alle anderen Radaubrüder auf der Welt sind doch klar gegen
> diese.

Das Dumme ist nur, wenn nur Lippenbekenntnisse zu diesen Werten
abgegeben werden. Ist es nicht eine kuriose Ironie der Geschichte,
daß ausgerechnet ein nicht demokratisch gewählt ins Amt geratener
Präsident dem Irak, ja dem ganzen Mittleren Osten, Demokratie
schenken will?

Klar, die Ideale der Gründungsväter der USA sind positiv,
Menschenrechte, Demokratie. Aber wer das heute ernst nimmt, der wird
von den heutigen selbsternannten US-"Patrioten" als Naivling
betrachtet.

Der bellizistische Apparat der USA ist der militärisch-industrielle
Komplex. Eisenhowers besorgte Vorahnungen haben sich bestätigt.
Dieses Krebsgeschwür belastet nicht nur die Welt, sondern auch die
übergroße Mehrheit des US-amerikanischen Volkes.

> Jedem bleibt natürlich selbst überlassen auf welcher Seite er stehen
> will, aber bei den meisten ist das nur Heuchelei oder reflexartige
> Verbrüderung mit dem vermeintlich Schwächeren. 

> Soll heissen -man kann Pazifist bis zur Selbstaufgabe sein, also
> die andere Wange hinhalten, aber wäre das nicht auch eine Art
> religiöser Fanatismus ?

> Solange man nicht gezwungen ist, seine Präferenz auch bis in die
> letzte Konsequenz zu unterstützen (also ab in den Irak, für Saddam
> kämpfen, oder nach Israel, gegen die Israelis),

Junge, wer für den Frieden ist, der ist GEGEN solche Kampfhandlungen!
Immer diese primitive Unterstellung, wer gegen den US-Angriff auf den
Irak ist, sei ein Hussein-Sympathisant.

> lässt sich natürlich
> wunderbar romantisieren und sympathisieren. Das ist auch das
> inhärente 'problem' von anonymen Internetforen - alles ist
> unverbindlich. Das ist eine nette Sache für ein bischen
> Diskussionshedonismus, wenn plötzlich Personen hier wirklich meinen,
> einen Beitrag zur realen politischen Diskussion bringen zu müssen,
> wird es schnell lachhaft. 

Die Parlamentarier, die über Kriegshandlungen abstimmen oder auch ein
Kanzler oder Präsident, solche Leute müssen ebenfalls nicht selber in
den Kampf. Im Gegensatz zu den üblichen Forendiskutanten sind sie
aber enormem Lobbyismus ausgesetzt, bis hin zur Korruption. Auch wenn
sie keine harten persönlichen Konsequenzen zu erwarten haben, sind
das die Leute, die letztlich über den Lauf der Dinge entscheiden. Im
derzeitigen Fall schickt sogar ein Präsident Soldaten in den Krieg,
der sich selber seinerzeit nicht nur um einen Einsatz in Vietnam dank
guter Beziehungen herumdrücken konnte, sondern sogar den alternativen
Dienst bei der National Guard nicht ordnungsgemäß erfüllt hat
(Tatbestand der Desertation). Tolle Referenz für einen
Oberbefehlshaber. Gut, daß man weiß: auf den George W. Bush ist
Verlaß! Zu seinem Wort steht er, und wenn er von hehren Werten
spricht, dann meint er das gewiß auch so.

"Diskussionshedonismus" ist viel zu verallgemeinert. Ein politisch
mündiger Bürger, der für eine funktionierende Demokratie erforderlich
bzw. wünschenswert ist, muß in solchen Diskussionen geübt sein.
Insofern ist so eine Beschäftigung schwerlich in eine Reihe zu setzen
wie etwa zuckende berauschte Leiber auf einer Love Parade (womit ich
solche Karnevalsveranstaltungen nicht verdammen möchte, die haben
auch ihre Daseinsberechtigung, aber das ist einfach etwas anderes).
Ernsthafte Diskussion ist nicht unbedingt immer so ein Genuß, wie ihn
echte Hedonisten zum Lebenssinn erwählt haben.

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