Politik der Hochmütigen
Corona Ungeimpfte beschimpfen, vom sozialen Versagen der Regierenden aber schweigen – warum die Pandemie so nicht enden wird
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Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die Verachtung der Armen so salonfähig wie in der aktuellen Pandemie. Fast alle Debatten um Impfpflicht, 2G oder Lockdown kommen ohne die Perspektive derer aus, die unter den Maßnahmen am meisten leiden: Erwerbslose, Niedriglöhnerinnen, Wohnungslose, Scheinselbstständige, Geflüchtete, Armutsrentner – Menschen eben, die auf engem Raum und mit wenig Gesundheitsschutz leben. Für sie sind die Einschränkungen, auf deren Ertragen sich die sogenannte bürgerliche Mitte so viel einbildet, schon immer die Normalität. Reisefreiheit gibt es für ökonomisch Schwache auch ohne Corona nicht, ebenso wie Restaurant-, Theater-, Club- oder Kinobesuche.
„Was mich wirklich wütend macht“, sagte der Intensivmediziner Michael Albrecht kürzlich dem Spiegel, „ist die entsolidarisierte Gesellschaft“. Gut gesagt! Schließlich hat von den Grünen bis zur CSU nahezu das gesamte politische Spektrum dieses Landes die Menschen systematisch zu Einzelkämpfern gemacht, immerzu an Eigenverantwortung appelliert und die Krankenhäuser auf Wettbewerb und Konkurrenz getrimmt. Doch all das meint Albrecht leider nicht. Seinen Satz vollendete er nämlich so: „Die Leute, die sich nicht haben impfen lassen, ohne Not.“
Wer noch vor wenigen Jahren von Solidarität sprach, musste sich als Salonrevoluzzer verspotten lassen. Heute führen diesen Begriff auch Konservative wie Markus Söder im Mund. Er zählte zu den Ersten, die eine Impfpflicht für das Pflegepersonal ins Spiel brachten. Doch warum war anfangs ausgerechnet in dieser Branche der Unwille so verbreitet? Womöglich hatte mancher eine Vorahnung: Sollten sie in personell unterbesetzten Heimen und Kliniken etwa vorangehen, damit man sie verheizen kann, ohne dass sich etwas an ihren Arbeitsbedingungen ändert?
Dass ein Abrissbirnenpolitiker wie Söder solche Fragen nicht stellt und lieber alle Impfskeptiker als unsolidarisch beschimpft, überrascht nicht. Aber die Rede von einer „Pandemie der Ungeimpften“ ist keine Domäne der Rechten. Auch der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow aus Thüringen stimmt ein. Nun sind die Ungeimpften keine homogene Gruppe. Unter den Gründen für eine Entscheidung gegen das Impfen sind aber jene am verständlichsten, die sich auf fehlendes Vertrauen in ein kaputtgespartes Gesundheitssystem zurückführen lassen. Für diesen Zustand zeichnet die Regierungspolitik verantwortlich. Es ist deren Pandemie und nicht die der Ungeimpften.