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mehr als 1000 Beiträge seit 13.01.2000

Rotstift

In dem Artikel sehe ich mehrere Vorschlaege, die, vermute ich, so von Russland kaum akzeptiert wuerden. Zuerst meine Einschaetzung der Situation:

1) Russland fuehlte sich durch eine drohende NATO-Expansion in die Ukraine existenziell bedroht, und fuehrte deshalb einen militaerischen Praeventivschlag gegen die Ukraine durch. Ob die Aengste Russlands begruendet sind, spielt keine Rolle. Ihre Existenz, und die Bereitschaft, daraus Taten abzuleiten, sollten Grund genug sein, sie ernst zu nehmen.

2) Im Donbass herrsche schon laenger ein buergerkriegsartiger Konflikt zwischen pro-russischen Separatisten und dem ukrainischen Staat. Man sollte sich ueberlegen, ob Russland ernsthaft dazu bereit sein koennte, den Donbass einfach sich selbst, und damit einer moeglichen Rache der Westukraine, zu ueberlassen.

3) In Georgien gab es eine sehr aehnliche Ausgangslage wie in der Ukraine, in der es Russland gelang, einen schnellen und relativ unblutigen Sieg zu erringen. Die umstrittenen Provinzen erhielten Autonomiestatus, Georgien gab seine NATO-Plaene auf, und das russische Militaer zog sich zurueck (bis auf in den nun autonomen Provinzen verbliebene Sicherheitskraefte).

4) Der Krieg in der Ukraine scheint fuer Russland derzeit wunschgemaess zu verlaufen: es kann die ukrainischen Kraefte im Stellungskrieg verschleissen, ohne sich dabei ueber Gebuehr strapazieren zu muessen, und kann gelegentlich die Front in kleinen und risikoarmen Schritten voranschieben. Ausserdem nutzt Russland sein (konventionelles) Eskalationspotential nur sehr zurueckhaltend.

5) Aus 4) folgt, dass es fuer die Ukraine nur schlimmer werden kann: es drohen nicht nur weitere Verluste an der Front, sondern auch Gebietsverluste, und, falls Russland unter Druck kaeme, auch eine Ausdehnung der Kampfhandlungen und eine erhebliche Zunahme der zivilen Opfer.

6) Der Westen scheint langsam das Interesse an der Ukraine zu verlieren: die USA haben erst mal mit ihren Wahlen zu tun, und falls Trump gewinnt, duerfte er ohnehin die Militaerhilfe fuer die Ukraine zusammenstreichen. In Europa wird man auch vorsichtig, und keiner will riskieren, nach dem Rueckzug der USA als Oberfalke dazustehen. Ausserdem machen die Schuldner der Ukraine vermehrt Druck.

Nun kann man sich ueberlegen, was all das fuer Verhandlungen bedeutet.

müsste [...] verhandelt werden, inwieweit ein Einverständnis darüber erzielt werden kann, dass sich die Nato zukünftig nicht weiter nach Osten ausdehnt [...]

Wuerde eine NATO-Expansion in die Ukraine nicht ausgeschlossen, dann wuerde der hauptsaechliche Kriegsgrund weiter bestehen. Ich denke, nicht, dass sich Russland darauf einlassen sollte, das ueberhaupt zu verhandeln.

Die Frage der staatlichen Zugehörigkeit [...] der im Donbass und auf der Krim lebenden Bevölkerung wird ein weiterer Gegenstand der Verhandlungen sein

Diese Bevoelkerung ist in von Russland kontrolliertem Territorium. Ich denke nicht, dass man erwarten kann, dass sich Russland mit weniger als dem in Georgien Erreichten begnuegen wuerde. Ein eigenstaendiger Donbass haette allerdings den Vorteil, als Pufferzone funktionieren zu koennen, damit sich ukrainisches und russisches Militaer nicht direkt gegenueberstehen muessen. Ausserdem waere es schoen, wenn es nicht, wie in Georgien, zu wilden Vertreibungen kaeme, sondern wenn die Leute, denen der neue status quo unangenehm waere, ihren zukuenftigen Wohnort geordnet waehlen koennten.

Auch die Einrichtung einer entmilitarisierten Schutzzone westlich und östlich der russischen Staatsgrenze (vor 2022)
[...]
der Rückzug der russischen Truppen aus dem Gebiet der Ukraine

Damit waeren wir schon bei der ukrainischen Maximalforderung, in all ihrer unrealistischen Pracht. Ausserdem stehen die russischen Truppen, nach russischer Lesart, auf nach den Annexionen russischem Boden.

Deutlich praktikabler duerfte sein, als ersten Schritt den Ist-Zustand einzufrieren, also

a) den derzeitigen Frontverlauf als Basis fuer eine waehrend der Waffenruhe und den Verhandlungen zu entmilitarisierende Zone zu nehmen, mit ausreichenden Pufferzonen hinter den jeweiligen Frontstellungen beider Seiten.

b) in dem Bereich humanitaere Aktivitaeten (Suche nach / Rettung von Verwundeten, Suche nach / Bergung von Gefallenen, Entfernen von unexplodierter Munition und sonstigen Gefahrenstoffen, usw.), in beiderseitiger Absprache zuzulassen.

c) den Abzug von Waffen und sonstigem Material zu erlauben, nicht aber das Einbringen neuen Kriegsgeraets, Arbeiten an Befestigungen, usw.

Wäre dies nicht der Fall, würde ein falsches globales Zeichen für andere autoritäre Staaten gesetzt, staatliche Grenzen anderer Staaten zu missachten und ebenfalls völkerrechtswidrige Aggressionen zu begehen.

John Maersheimer nennt das "great power politics". Er bemerkt, dass sich die Supermaechte ohnehin nicht vorschreiben lassen, was sie tun sollen, und dass es auch niemanden gibt, der sie disziplinieren koennten. Ich denke, das wichtigste Zeichen ist, dass es auch bei grosser Ueberlegenheit sehr teuer sein kann, sich mit einem militaerischen Konflikt einen Nutzen zu sichern.

Die Vorteile für die Russische Föderation und Belarus wären unter einer ökonomischen Perspektive ebenfalls offenkundig: Aufhebung der westlichen Sanktionen, [...]

Und mit solchen vagen Hoffnungen soll sich Russland begnuegen, und dafuer ueber die NATO-Ostexpansion "verhandeln", den Donbass sich selbst ueberlassen, und bei einem Wiederaufflammen des Buergerkriegs zusehen ?

Waeren die USA ueberhaupt bereit, ihre Sanktionen gegen Russland aufzuheben ? Man denke nur an all die Sanktionen gegen China, mit dem man (noch) nicht einmal einen Stellvertreterkrieg fuehrt. Und was haette die EU anzubieten ? Sie wurde von den Sanktionen selbst haerter getroffen als Russland. Waere sie bereit, sich in neue Abhaengigkeiten von Lieferungen aus Russland zu begeben, nur damit fuer Russland etwas dabei herausspringt ?

Nachdem sich der Westen gegen Russland gestellt hat, hat es inzwischen gute Partner im globalen Sueden gefunden, und weil all das Sanktionspulver ohnehin schon verschossen wurde, und wirkungslos verpuffte, kann Russland auch ungehemmt mit Schurkenstaaten kuscheln. Es steht also unter keinerlei Zugzwang.

Eine Wiederannaeherung von Europa und Russland ist sicher fuer beide Seiten erstrebenswert, aber sie wird unter gleichberechtigten Partnern erfolgen muessen. Von Russland grosse Eingestaendnisse als Vorbedingung zu fordern, dass man ueberhaupt miteinander redet, halte ich fuer anmassend und unrealistisch.

Ich halte Putin fuer sehr pragmatisch, was nicht unbedingt fuer den Rest der russischen Fuehrung gilt. Deshalb vermute ich, dass man am ehesten Zugestaendnisse von Russland erhalten kann, wenn man i) sie klar als solche benennt, und ii) Russland gute Gruende nennen kann, warum sich das auch fuer Russland lohnt. Also beispielsweise der Verzicht auf Gebiete, die Russland zwar erobert hat, die langfristig aber nur Aerger machen wuerden. Und umgekehrt mag es auch Gebiete geben, von denen sich die Ukraine lieber trennen sollte. Um die moegliche Verhandlungsmasse auf beiden Seiten abzuschaetzen fehlen mir allerdings die Fachkenntnisse.

- Werner

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