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  • Fizzlefritz

793 Beiträge seit 08.09.2023

Re: NATO-Osterweiterung. Eine Einschätzung.

Prof. Dr. Klaus Moegling schrieb am 21.07.2024 16:15:

Die ab 1998 schrittweise ratifizierte NATO-Osterweiterung um osteuropäische Staaten und die baltischen Länder wurde von Putin nachträglich mehrfach als Ausdruck gebrochener vertraglicher Vereinbarungen bezeichnet. Zusagen, dies nicht vorzunehmen, gab es jedoch im 2-plus-4-Vertrag nicht, nur im Vorfeld nicht-legitimierte mündliche Zusagen (Baker, Genscher), die wieder auf Druck des US-Präsidenten George H.W. Bush 1990 zurückgenommen wurden.

Das ist eine legalistische Interpretation. Rechtlich sicher nicht angreifbar, da nicht Teil des Vertrags, aber Geopolitik und zwischenstaatliche Beziehungen spielen sich nicht nur in einer formaljuristischen Sphäre ab. Der Großteil der Interaktionen auf dieser Ebene beruht nicht auf Verträgen mit feierlicher Unterzeichnungszeremonie, sondern eben auf verbaler Kommunikation und informellen Absprachen. Meiner Ansicht nach ist diese Kommunikationsebene einer der wichtigsten Bestandteile der Diplomatie und eine Voraussetzung dafür, dass Vereinbarungen überhaupt irgendwann in völkerrechtlichen Verträgen formalisiert werden.

Sich nicht an diese Zusage zu halten war ein Vertrauensbruch, der das Signal an die Russen aussendete, dass der Westen hier nicht in redlicher Absicht gehandelt hat und dessen Zusagen mit Vorsicht zu genießen sind. Ich bin eher ein Anhänger des politischen Realismus und sehe die zwischenstaatliche Ebene als anarchisches System, das eher der Interaktion zwischen Mafia-Clans gleicht, als dem geordneten System innerhalb eines Rechtsstaats, wo man sich am Ende immer an die Rechtsprechung als übergeordnete Instanz wenden kann. Daher erachte ich Vertrauen als eine der wichtigsten Währungen in diesem System, die eine Menge Türen öffnen kann. Mit diesem Vertrauensbruch wurde ein erster Schritt getan, Russland vom Westen zu entfremden und die aktuellen Entwicklungen sind eine späte Konsequenz aus einer Reihe von Entscheidungen unserer Seite, die mit diesem Ereignis ihren Anfang genommen haben. Das mag zwar formal korrekt gewesen sein, war aber dennoch ein Fehler. Hätten wir damals bereits in diesem Punkt einen Schritt auf dem Weg der Kooperation statt der Konfrontation beschritten, sähe die Welt heute vielleicht anders aus.

Verträge sind letztendlich nur ein Stück Papier. Für mich persönlich ist wichtiger, was am Ende dabei herauskommt. Und da sind auch verbale Zusagen und die langfristigen Konsequenzen daraus von großer Bedeutung.

Daher ist auch zu fragen: Was hätte es bedeutet, wenn osteuropäische Staaten und die baltischen Länder nicht in die NATO (und die EU) aufgenommen worden wären? Wären insbesondere Litauen, Estland und Lettland jetzt noch souveräne Staaten oder wären sie bereits von den Truppen der Russischen Föderation überrannt worden und per Parlamentsbescheid und Verfassungsänderung in die Russische Föderation eingegliedert?

Ich halte das für sehr unwahrscheinlich, da die Russen bis zum Ukraine-Konflikt bei den anderen ehemaligen UDSSR-Staaten, die keine NATO-Mitglieder sind, keine solche Ansprüche erhoben haben. Selbst bei der Ukraine haben sie entsprechende Anträge auf Aufnahme seitens der Donbass-Republiken für die längste Zeit des Konflikts abgelehnt und für diese die Position der Minsk-Verträge, mit mehr Autonomie für die Ostukraine vertreten. Man sollte eigentlich meinen, dass sie die erste Gelegenheit dazu genutzt hätten, wenn es ihnen tatsächlich darum gegangen wäre, sich das Territorium "einzuverleiben".

Den (nachgeholfenen) Beitritt der Krim halte ich da übrigens für ein hauptsächlich militärstrategisches Manöver. Ich schätze die Aktion so sein, dass die Russen um jeden Preis verhindern wollten, dass Sewastopol, wo die russische Schwarzmeerflotte seit über 240 Jahren stationiert ist, durch einen "Coup" zu einem NATO-Marinestützpunkt wird. Ich halte es auch für sehr wahrscheinlich, dass das tatsächlich passiert wäre, wenn sie nach dem Maidan-Putsch den Westen einfach hätten gewähren lassen und nichts unternommen hätten.

Ein weiteres Beispiel ist Georgien. Auch dort machten die Russen keine Anstalten, Südossetien in ihr Staatsgebiet zu inkorporieren, nachdem der Angriff Georgiens zurückgeschlagen wurde. Wie schon bei der Ostukraine macht aber auch dieser Konflikt deutlich, dass sich die Russen als Schutzmacht für die sich als "russisch" identifizierende Bevölkerung in den ehemaligen Staaten der UDSSR sieht. Wären die baltischen Staaten nicht in der NATO, würde m.E. z.B. aggressives Vorgehen gegen die dortige russischen Bevölkerungsgruppen eine russische Reaktion provozieren. Ohne einen solchen Anlass ähnlich wie in Südossetien oder der Ostukraine denke ich nicht, dass Russland die baltischen Staaten irgendwie bedroht, "überrannt" oder "eingegliedert" hätten. Auch ohne NATO-Mitgliedschaft.

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